Es ist Freitagabend. Wir sitzen in einem Kreis zusammen und quatschen. Zuerst wird ein bisschen gescherzt, dann geht es los: Wir wickeln uns in warme Decken, zünden ein paar Kerzen an für die wohlige Atmosphäre. Dann atmen wir tief durch, und fangen an zu reden.
Wir sind «Sisters Domestic Violence and Abuse Bern»: Eine selbst organisierte Gruppe von Frauen und INA* Personen. Wir treffen uns, um über unsere Erfahrungen mit intimer Partnergewalt zu sprechen. Uns verbindet, dass wir unter Menschen gelitten haben, die uns besitzen, kontrollieren, demütigen, leiden lassen und teils umbringen wollten. Diese Narben wollen wir auf kollektiver Ebene heilen, indem wir unsere Geschichten miteinander teilen.
Geteilte Erzählungen
Etwas sticht durch den Austausch unserer Geschichten bei allen Treffen ins Auge: Die Parallelen unserer Erlebnisse sind enorm. Täter benutzen gleiche Taktiken der Manipulation, stellen mit denselben Instrumenten Machtgefälle und Kontrolle her, benutzen die gleichen Wörter, und sagen manchmal sogar dieselben Sätze: Es ist, als hätten sie alle denselben Missbrauchs-Leitfaden gelesen.
Intime Partnergewalt ist aber oft schwierig zu erkennen. Täter sind meist charmante, gegen aussen umgängliche Personen. Sie leugnen das eigene Verhalten, begreifen sich fast immer selbst vorrangig als Opfer und stellen sich als solches dar. Typische Ausreden gehen von «beide sind toxisch», zu «ich habe ein Kindheitstrauma» bis «es war der Alkohol». Selbst für Betroffene ist es schwierig zu benennen, wer die Gewalt ausübende und wer die Gewalt erleidende Person in der Beziehung ist, da Täter mit Scham, Verdrehung und Anschuldigungen arbeiten. Es ist unglaublich verwirrend und verunsichernd, unter jemandem zu leiden, der sagt, dass er dich liebt. Als Betroffene fängt man an, die eigene Wahrnehmung in Frage zu stellen.
Ein Beispiel: Ein Täter sagt nicht einfach «ich will nicht, dass du Freund*innen siehst». Aber er wird es erschweren mit Sätzen wie «sie sind nicht gut für dich», oder «der will gar nicht mit dir befreundet sein, er will nur ins Bett mit dir». So wird die Welt langsam kleiner, und der Täter zur primären Bezugsperson. Es ist schwierig, die Liebe, die man empfindet, und die anfängliche Hoffnung, die man in der Beziehung verspürt hat, mit der anderen, kalten Realität zu vereinbaren, die sich langsam einschleicht: Konstante Kritik, Wutausbrüche, Flüche, Beleidigungen, geworfene Dinge, selbstmitleidige Entschuldigungen und leere Versprechen. Intime Partnergewalt geht oft auch nach der Trennung weiter. Viele von unserer Gruppe erlebten endlose Beschimpfungen in Nachrichten, Stalking, Drohungen gegen uns und unsere Familien und Instrumentalisierung der Kinder. Nachtrennungsgewalt eskaliert manchmal zu Feminiziden: der Grossteil der getöteten Frauen wird von ihren Partnern während der Trennungsphase umgebracht. Die Ausübung intimer Partnergewalt endet auch teils in Suiziden von Betroffenen, die bei Feminiziden mitgedacht werden müssen. Dahinter steht eine patriarchale Anspruchshaltung. «Gehört sie nicht mir, hat sie keinen Wert».
Wie hat ein «Opfer» zu sein?
Viele Gewaltbetroffene reagieren mit Schock, Scham und Angst, aber auch Wut. Vor allem für weiblich gelesene Personen ist Wut eine gesellschaftlich verbotene Emotion. Dabei ist es ein Gefühl, das dazu dient, Grenzverletzungen wahrzunehmen. Die Unterdrückung von weiblicher Wut dient deshalb nicht zuletzt dazu, Widerstand gegen Ungerechtigkeit im Kern zu ersticken: «Sei nicht so hysterisch» oder «Mach kein Drama»; Sätze, die wir von «Sisters Domestic Violence and Abuse Bern» nur allzu gut kennen. Viele von uns brauchten mehrere Jahre, um die Gewalt, die uns widerfahren ist, zu benennen. Das gehört zum Trauma-Heilungsprozess dazu. Leider sind bis dahin viele der Straftaten schon verjährt. Unsensible Bekannte finden dann: «Man sollte alte Sachen nicht wieder aufreissen», oder sind erstaunt. «Wie konnte dir sowas passieren? Du bist schon ein bisschen selbst schuld». Bei weiblich gelesenen Personen hat die Gesellschaft spezifische Erwartungen an ein «glaubwürdiges Opfer»: Man erwartet, dass sie weinen, schwach scheinen, um Hilfe beten, am Boden zerstört sind und dies offenlegen. Da Betroffene fast immer traumatisiert sind, und sich eine komplexe posttraumatische Belastungsstörung auf verschiedenste Arten äussert, kann man nicht eine «typische» Verhaltensweise erwarten, und ihre Glaubwürdigkeit davon abhängig machen. Doch genau das geschieht, vor Strafgesetz- und Familiengerichten, sowie im Bekanntenkreis.
Heard vs. Depp: Eine Retraumatisierung
Das liess sich gut im Gerichtsfall letzten Frühling 2022 zwischen Amber Heard und Johnny Depp erkennen. Trotz genügender Evidenz und einer vorgängigen Verurteilung von Johnny Depp als Gewalttäter wurde Amber Heard in der Öffentlichkeit zerrissen. Durch eine Sprache von Memes und Reels wurde eine frauenfeindliche Kampagne auf Plattformen wie Youtube, TikTok und Instagram gestartet. Diese wurde auch von den Massenmedien kritiklos aufgenommen. Eine Idee wurde auf globalem Level in unseren Köpfen verankert: Weiblich gelesene Personen, welche angeben, von intimer Partnergewalt betroffen zu sein, lügen. Sie inszenieren, wollen Aufmerksamkeit oder Rache, sie manipulieren, sie verdienen es nicht anders. Für uns Überlebende war diese Zeit bedrohlich: Plötzlich tauchten pro-Depp Posts im eigenen Instagram Feed auf von Menschen, von denen man gedacht hatte, sie wären unterstützend. Man musste im Café vom Nebentisch Konversationen mithören wie «sie hat gelacht, die lügt bestimmt». Amber Heards Gesichtsmimik und Verhalten wurden ins kleinste Detail auseinandergenommen. Sie habe Borderline oder eine Persönlichkeitsstörung behaupteten Menschen, die von psychiatrischer Diagnostik keine Ahnung haben. Solche Zuschreibung von psychischen Erkrankungen haben auch viele von uns bei Sisters DV Bern erlebt. Das Infragestellen der psychischen Gesundheit eines weiblich gelesenen Opfers ist eine patriarchale Waffe, um ihre Glaubwürdigkeit zu unterminieren. Es hat System, dass weiblich gelesene Betroffene von genderspezifischer Gewalt mit Persönlichkeitsstörungen diagnostiziert werden, obwohl sie lediglich unter der Belastung eines Traumas leiden.
Gewalt in der Szene
Auch in links-politischen Kreisen sind Victim Blaming und Täterschutz tief verankert, das mussten einige von uns schmerzlich erfahren. Eine klimaschützerische, antikapitalistische und anti-rassistische Haltung ist nicht zwingendermassen mit einem informierten Feminismus gepaart. Die «Brüder schützen Brüder»-Mentalität herrscht oft vor, man spricht von Loyalität und meint Täterschutz. Wenn in den eigenen Reihen Vorwürfe gegen einen Bekannten auftauchen, wird meist weggeschaut. «Keine Zeit». «Dieses Problem existiert bei uns nicht, wir sind links». Dieser Doppelstandard bezüglich gender-basierter Gewalt füttert ein zutiefst konservatives Bild: intime Partnergewalt passiert hinter verschlossenen Türen und ist Privatsache. Es ist keine Abnormalität, wenn in der linken Szene ein Vergewaltiger oder Missbraucher rehabilitiert wird. Selbst in den Tattoo- Rapper- Maler- Techno- Besetzer Szenen werden TINFA* Personen oft als Homos, Hoes und Bitchez bezeichnet, statt als zu respektierende Gegenüber wahrgenommen zu werden. Diese Alpha-Männer-Domäne schützt sich selbst, auch wenn sie sich dabei ‘feministisch’ auf die Flagge schreibt und mittlerweile gelernt hat, politisch korrekte Sprache zu benutzen.
Gesellschaftliches Problem
Intime Partnergewalt kann überall passieren, weil wir eine patriarchale Beziehungs-und Geschlechterkultur leben, welche Besitzansprüche, Machtausübung und Gewalt fördert. Männliche Gewalttäter sind nicht einzelne «verdorbene Exemplare», sie existieren in pandemischem Ausmass. Gerade junge Menschen lernen Sex zum grössten Teil über den Konsum gewaltvoller Pornographie. Auf sozialen Plattformen sind sie Inhalten ausgesetzt, welche konservative Genderbilder fördern; Make-up Tutorials, Filter und normschöne sexualisierte Frauenkörper; gepumpte Muskeln, Geld und maskuline Selbstdarstellung. Liebe wird als marktwirtschaftlichen Tausch propagiert, weibliche Körper als Ware. Eine konstante Suche nach dem besten Deal, noch schöner, noch besser, noch cooler. Gesunde Liebe, Beziehungsfähigkeit, Vulnerabilität, Ehrlichkeit, Gleichbehandlung, gegenseitiger Respekt, Vertrauen: Diese Werte werden gesellschaftlich nicht vorgelebt. Nicht in der Schule, nicht in Mainstream Filmen, nicht in der Popkultur, nicht in Pornos, nicht in den sozialen Medien, nicht in der Politik und auch nicht per se in linken Kreisen.
Die Gewalt richtet sich auch gegen sich selbst
Doch nicht nur TINFA* Personen und queere Männer leiden unter patriarchalen Strukturen, sondern auch heterosexuelle cis Männer. Vielen männlich sozialisierten Menschen fehlt der Zugang zu den eigenen Gefühlen und zu wahrer Intimität. Die Gewalt richten sie auch gegen sich selbst: Suizid ist die häufigste Todesursache für junge Männer in der Schweiz.
Um die Systematik patriarchaler Gewalt zu beenden, brauchen wir als Gesellschaft einen Prozess der Heilung und eine Kampfansage gegen patriarchale Geschlechterstereotypen. Gewalt in der Familie wurde über Generationen weitergegeben. Vor noch nicht so langer Zeit wurde im Fall geschlagener Ehefrauen in Dorfbeizen diskutiert, ob sie es wohl verdient hatten, und diszipliniert werden mussten. Auch gewaltvolle unaufgearbeitete Staatspraktiken wie Kindesverdingung oder Hexenverbrennungen, bei denen der Schweizer Staat Vorreiterrollen eingenommen hatte, haben noch heute Einfluss auf unser Zusammenleben. Wenn wir weitere Gewalt verhindern wollen, gehört die Heilung intergenerationeller Traumata deshalb zum Prozess hinzu. Wir von «Sisters DV Bern» versuchen, zu diesem Heilungsprozess beizutragen, indem wir uns gegenseitig unterstützen. Wir glauben und schätzen einander. Unsere Solidarität füreinander bietet uns Schutz vor Verzweiflung und Einsamkeit. Sie gibt uns einen Teil der Würde wieder, die man versucht hat, uns zu nehmen.