Im Jahr 1928 gründeten vier jüdische Unternehmer südlich der palästinensischen Hafenstadt Jaffa die Zitrusfarm Gan Raveh. Louis und Philip Policansky, Max Gurland und Chaim Schlomo Yoffe stammten alle aus Litauen, lebten jedoch in Südafrika. Sie waren in der Tabakindustrie, der Fleischverarbeitung und der Ziegelherstellung tätig, vom Zitrusanbau verstanden sie wenig. Doch die Rahmenbedingungen für ein Zitrusunternehmen in Palästina schienen günstig: Orangen und Zitronen waren in Europa sehr gefragt und zionistischen Organisationen, wie der Jewish National Fund (JNF), die Palestinian Land Development Company (PLDC) und die Palestine Jewish Colonization Association (PICA) unterstützten jüdische Unternehmer*innen dabei, Land in Palästina zu erwerben. Die zionistische Bewegung hatte im 19. Jahrhundert damit begonnen, auf die Gründung eines jüdischen Nationalstaates hinzuarbeiten. Sie förderte jüdische Migration nach Palästina und gründete diverse semi-staatliche und politische Organisationen zur Verwaltung der jüdischen Kolonien.
Zionistischer Landerwerb
Das Landstück von Gan Raveh lag gleich neben der palästinensischen Ortschaft al-Qubayba und war wegen der Küstennähe ideal für den Anbau von Zitrusfrüchten. Vor den vier Unternehmern hatte sich bereits der oben erwähnte JNF für das Grundstück interessiert, sich dann aber gegen den Kauf entschieden. Dass ein Teil des Landes einige Jahre später doch noch in den Besitz des JNF wechselt, ist kein Zufall: Die Organisation arbeitet bis heute darauf hin, so viel Boden wie möglich in jüdischen Besitz zu bringen und ihn dann dort zu behalten. Die Zitrusindustrie erwies sich als eines von vielen unterschiedlichen Mitteln, jüdischen Bodenbesitz zu etablieren. Dies ging einher mit einer markanten Zunahme jüdischer Zitrusproduktion: Während 1920 erst rund ein Drittel des Zitrusanbaugebietes in jüdischer Hand war, stieg der Anteil bis 1940 auf über die Hälfte. Die Bestrebung, Land in exklusiv jüdischen Besitz zu transferieren, hatte für die palästinensische Bevölkerung weitrechende Konsequenzen. Nach einem Wechsel in jüdischen Besitz verloren palästinensische Pächter*innen in den meisten Fällen das Nutzrecht und wurden, wenn sie nicht freiwillig gingen, mit Gewalt vom Landgut vertrieben. In einem besonders gravierenden Fall vertrieb die PICA über 800 halbnomadisch lebende Menschen aus einem Sumpfgebiet in der Nähe von Haifa und legte das Land anschliessend trocken, um es für die Landwirtschaft zu nutzen.
Nationalistischer Kapitalismus
Gan Raveh beteiligte sich an der Diskriminierung palästinensischer Arbeiter*innen, indem sie diese von einer Anstellung auf der Zitrusfarm ausschloss. Damit folgten die vier Unternehmer dem von zionistischen Vordenker*innen geforderten Prinzip von «Avodah Ivrit», zu Deutsch «jüdische Arbeit». Damit die jüdische Nation in Palästina weiter gestärkt wird, sollten in zionistischen Betrieben nur jüdische Angestellte zugelassen werden. Dass auf anderen Plantagen weiterhin mehrheitlich Palästinenser*innen arbeiteten, ist vor allem auf Lohnunterschiede zurückzuführen: Palästinensische Angestellte arbeiteten mehr und verdienten im Durchschnitt etwa vierzig Prozent weniger als jüdisch-europäische. Die Lohnunterschiede wurden mit rassistisch Vorurteilen begründet. So erklärte Chaim Arlosoroff, führendes Mitglied der zionistisch-sozialistischen Arbeitspartei Mapai in Palästina, die palästinensischen Arbeitskräfte seien nicht genügend gebildet, um über Arbeitszeit oder den Schutz von Frauen* und Kindern zu diskutieren. Rassistische Stereotypen prägten in Palästina nicht nur das Verhältnis zwischen Arbeitnehmenden und Arbeitgebenden, sie durchdrangen die gesamte Gesellschaft und dienten sowohl britischen als auch zionistischen Institutionen dazu, koloniale Interessen durchzusetzen. Der Aufbau Gan Ravehs ermutigte weitere jüdische Unternehmer*innen und den JNF, Land in der unmittelbaren Umgebung zu kaufen. Der Anteil jüdischer Grundstücke nahm während den folgenden Jahren zu. Auch die Gründung der jüdischen Siedlungskolonien Beit Hanan, Beit Oved und Ayanot fiel in dieselbe Zeit.
Palästinensischer Widerstand
Palästinensische Kleinbäuer*innen litten jedoch unter der Konkurrenz profitorientierter Landwirtschaftsbetriebe. Preisschwankungen und die britische Steuerpolitik waren weitere Belastungen, denen die meisten nicht standhalten konnten. Viele Bäuer*innen verschuldeten sich, verarmten und mussten ihr Land oder ihre Pachtverträge verkaufen, um in den Städten nach Arbeit zu suchen. Die britische Mandatsmacht erkannte Ende der 1920er-Jahre das Problem und korrigierte die eigene Steuerpolitik. Doch die Anpassung kam für die meisten Kleinbäuer*innen zu spät. Viele Palästinenser*innen beobachteten die Verarmung der Bäuer*innen und die gleichzeitige Zunahme jüdischen Landbesitzes mit Besorgnis und vermehrt auch mit Wut. Die Frage nach der Aufteilung des Landes zwischen jüdischen und nicht-jüdischen Bewohner*innen wurde in politischen Kreisen immer lauter und immer konkreter diskutiert und in der palästinensischen Bevölkerung formierte sich Widerstand gegen britische und zionistische Kräfte. Angriffe auf britische und zionistische Institutionen und Gewalt gegen Zivilpersonen häuften sich. Die britische Armee ging mit aller Härte gegen palästinensischen Widerstand vor und scheute auch nicht vor Kollektivstrafen zurück. Die zunehmende Gewalt verzögerte auch den Anbau auf den Plantagen von Gan Raveh. Auf Anordnung der zionistischen Miliz Hagana wurde die Bewirtschaftung 1929 kurzzeitig unterbrochen und das Land sich selbst überlassen. Als die Arbeiten noch im selben Jahr wieder aufgenommen wurden, waren die Bäume zerstört worden und mussten ersetzt werden. 1936 rief die palästinensische Führung schliesslich einen Generalstreik aus, dem sich tausende Menschen anschlossen. In den Folgejahren stellten sich palästinensische Guerillakämpfer*innen, darunter viele verarmte Bäuer*innen, im «arabischen Aufstand» einer ungleichen und blutigen Auseinandersetzung mit zionistischen Paramilitärs und der britischen Armee.
Land für den jüdischen Staat
Ein Jahr vor dem Aufstand trugen die Zitrusbäume von Gan Raveh zum ersten Mal marktfähige Früchte. Die Gründer teilten das Land daraufhin zu im Voraus vereinbarten Konditionen unter sich auf und gingen getrennte Wege. Chaim Shlomo Yoffe starb noch im selben Jahr. Seine Witwe verkaufte seinen Anteil an Privatpersonen und den JNF. Auch das Land der Policansky-Brüder ging einige Jahre später zu einem grossen Teil an den JNF. Lediglich Max Gurlands Anteil blieb noch eine Weile im Besitz seiner Familie. Der Ausbruch des «arabischen Aufstandes» setzte der Zitruseuphorie in Palästina vorerst ein Ende. Spätestens nach Ausbruch des Zweiten Weltkrieges zogen sich die letzten Grossinvestor*innen aus dem Zitrusgeschäft in Palästina zurück. Die Früchte verfaulten in den folgenden Jahren an den Bäumen oder wurden als Tierfutter verwendet, in manchen Fällen wichen die Zitrusplantagen anderen Projekten. Doch während die «Zitruseuphorie» noch vor der israelischen Staatsgründung 1948 verebbte, bleibt das Land, das während dieser Zeit in jüdischen Besitz gewechselt hatte, für die palästinensische Bevölkerung bis heute ausser Reichweite. Gan Raveh war wirtschaftlich keine Erfolgsgeschichte. Einer kapitalistischen Logik folgend und getreu nationalistischer Prinzipien trug die Zitrusplantage jedoch zur Kolonialisierung Palästinas bei. Wie andere zionistische Projekte, brachte Gan Raveh schon vor der israelischen Staatsgründung Land in jüdischen Besitz und diskriminierte palästinensische Arbeiter*innen, deren Widerstand von der britischen Mandatsmacht und zionistischen Milizen brutal unterdrück wurde. Landumverteilung, Diskriminierung und militärische Gewalt bilden bis heute das Fundament der israelischen Vormacht und der Apartheid in Palästina/Israel. Die gewaltsame Unterdrückung des palästinensischen Widerstandes, die Vertreibungen palästinensischer Menschen und die Aneignung ihres Landes durch den jüdischen Staat stellen eine direkte Kontinuität zu den Anfängen des zionistischen Projekts dar. Und es ist die Anerkennung genau dieser Kontinuität, welche einen Beitrag sein kann zu einem Prozess der Dekolonialisierung.