Gläserne Decke Text: jin | Bild: Mivia

Wie unzureichende Kinderbetreuung die Gleichstellung verhindert

Die Schweiz zählt im internationalen Vergleich zu den Schlusslichtern bei der Gleichstellung von Frauen im Berufsleben. Historische und strukturelle Hindernisse – vor allem die mangelhafte Kinderbetreuung – erschweren den beruflichen Aufstieg von Frauen bis heute und zementieren die «gläserne Decke».

Die gläserne Decke ist ein unsichtbares, aber kaum überwindbares Hindernis, das die Gleichstellung von Frauen scheinbar unerreichbar macht. Diese Metapher verdeutlicht Diskriminierung, systematische Benachteiligung und strukturelle Unterdrückung. Barrieren, die Frauen daran hindern, in hierarchischen Strukturen beruflich aufzusteigen. Mit dem gleichnamigen «Glass-Ceiling-Index (GCI)» veröffentlicht das britische Magazin «The Economist» jährlich einen Bericht, der diese Barrieren in einem globalen Vergleich aufzeigt.

Der Glass-Ceiling-Index (GCI)
Der GCI vergleicht Geschlechter- und Chancengleichheit in der Berufswelt anhand mehrerer Faktoren wie Bildung, Lohndifferenz, gesetzliche Gleichstellung und Kinderbetreuung. Anhand dieser Kategorien werden Ranglisten erstellt, die die Unterschiede zwischen den Ländern verdeutlichen. Die Schweiz schneidet dabei schlecht ab, insbesondere aufgrund der erschwerten Zugänglichkeit zur Kinderbetreuung. Dort belegt sie den 29. Platz  – den letzten unter den OECD-Ländern.

Ursachen für die Benachteiligung
Die Frage, warum die Schweiz so stark hinterherhinkt, lässt sich durch mehrere historische und strukturelle Faktoren beantworten. Dazu zählt die unzureichende staatliche Unterstützung und die föderalistische Organisation des ausserfamiliären Fremdbetreuungsangebots, die eine einheitliche Regelung erschwert. Elementar ist zudem ein Blick in die Geschichte, der die Ursprünge dieser Rückstände zeigt und Erklärungen liefert, warum die Schweiz gegenüber anderen OECD-Ländern einen Entwicklungsrückstand in der ausserfamiliären Fremdbetreuung aufweist.

Der Blick zurück
Obwohl das bürgerliche Familienmodel eine Beteiligung der Frau am Arbeitsmarkt nicht vorsah, waren Ende 19. Jahrhunderts über die Hälfte der Frauen in der Schweiz erwerbstätig. Insbesondere in Arbeiter*innen- und Unterschichtsfamilien, war es wirtschaftlich kaum umsetzbar, dass Frauen nicht auch arbeiteten. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts entstanden daraufhin erste private Betreuungsangebote, die durch wohlhabende Büger*innen organisiert und unterstützt wurden. In Arbeiterquartieren richteten Frauenvereine, religiöse Organisationen und philanthropische Kreise Krippen und Horte ein, die Kinder berufstätiger Mütter betreuten. Allerdings waren diese Angebote oft beschränkt und an strenge moralische Anforderungen gebunden. So wurden Kinder unverheirateter Mütter abgelehnt. Die Krippen boten in ihren Anfangsjahren kaum pädagogische Betreuung, sondern galten als Notbehelf zur Überbrückung für Mütter, die arbeiten mussten.

Anfang des 20. Jahrhunderts gewann das bürgerliche Familienideal an Bedeutung. Die Erwerbsquote von Frauen sank, und das Ideal, dass Frauen auf Erwerbsarbeit verzichten, verfestigte sich. Die Verantwortung für Kinderbetreuung und Haushalt viel gänzlich den Frauen zu, was die gesellschaftliche Entwicklung ausserfamiliärer Betreuungsstrukturen hemmte. Die wirtschaftliche Rezession der 1930er Jahre führte zudem zu einem weiteren Rückgang der Erwerbsarbeit bei Frauen, was die Nutzung von ausserfamiliären Betreuungsangeboten weiter reduzierte.

Der 1945 verabschiedete Familienschutzartikel förderte zwar Familienzulagen und eine Mutterschaftsversicherung, nicht jedoch die Schaffung von Betreuungsinstitutionen. Für zahlreiche Kinder gab es dadurch keine adäquaten Betreuungsmöglichkeiten, was zu Fremdplatzierungen in Waisenhäusern oder als «Verdingkinder» führte.

Erst in den 1970er Jahren wurden im Zuge der Frauenbewegung neue pädagogische Konzepte entwickelt, die Krippen als pädagogisch sinnvolle Massnahme und nicht mehr nur als Notlösung für arbeitende Mütter ansahen. Das Modell der Tagesmütter etablierte sich ab 1973, und zahlreiche private Vereine übernahmen Betreuungsangebote. Daraufhin wurden in den 1980er Jahren die ersten Angebote von Gemeinden und Kantonen geschaffen oder in deren Verantwortung übergeben.

2000 erkannte der Bund schliesslich die Notwendigkeit einer breiteren Abdeckung von ausserfamiliären Betreuungsangeboten an. Eine parlamentarische Initiative sicherte eine Anschubfinanzierung von 200 Millionen Franken für familienergänzende Massnahmen. Bis 2018 konnten so 57.400 neue Betreuungsplätze geschaffen werden.

Der Einfluss internationaler Entwicklungen
Wie der GCI zeigt, ist dies jedoch nicht genug. So haben die meisten OECD-Länder die Schweiz in der Entwicklung der ausserfamiliären Kinderbetreuung und der Gleichstellung weit überholt. Denn anders als die Schweiz haben viele OECD-Länder dass Frauenstimmrecht nach dem Ersten und Zweiten Weltkrieg eingeführt. Während dort Frauen vermehrt in den Arbeitsmarkt integriert wurden, was langfristig auch strukturelle Veränderungen zur Folge hatte, blieb die Schweiz wegen ihrer Neutralitätspolitik von diesen Entwicklungen weitgehend unberührt. Die ideologische Rolle der Hausfrau blieb stark verankert und bremste die politische und wirtschaftliche Integration von Frauen. So blieb die Förderung ausserfamiliärer Kinderbetreuung in der Schweiz lange Zeit kein dringliches Thema und gewann erst in den 2000er-Jahren an Priorität.

Zulasten der Frau
Dennoch gibt es bis heute keine umfassende Initiative, die den Rückstand aufarbeitet oder die Zugänglichkeit zur ausserfamiliären Kinderbetreuung konsequent fördert. Die strukturelle Benachteiligung bleibt bestehen und belastet insbesondere Frauen, die den «Preis» der gläsernen Decke tragen, weil die Versäumnisse der Vergangenheit nicht aufgearbeitet werden.