An der Militärstrasse 95, am Ende einer Strasse, wo die Löcher im Asphalt kleine Pfützen bilden, in denen braune Blätter herumschwimmen, am Ende dieser Strasse, beim Dead-end am Rande einer Peripherie, liegt ein Schuppen namens «Zum Sternschnupfen». Halb auf einen Betonbunker gestützt, der da irgendwie auch steht, neben einem Holunderbusch und einem dornigen Gestrüpp, von dem fast niemand weiss, dass frau*man die roten Früchte essen kann. Da steht er und ragt trotzig in die Höhe, im Hintergrund die fünf- bis zehnstöckigen Gebäude der verlassenen Industriestadt.
Niemand arbeitet da mehr und niemand geht dem alten Zuggeleis entlang, niemand sammelt die roten, sauren Früchte von den dornigen Zweige des Busches ab, um sie über dampfenden Safranreis zu streuen, niemand geht dem alten Zuggeleis entlang, um herumliegenden Plastikflaschen und Flipflops zu fotografieren, und auch niemand ist da, um seine leere Bierdose im Gras zu vergessen. Nur dieser Schuppen «Zum Sternschnupfen» und der Gedanke: Irgendwie muss der ganze Plunder ja dorthingekommen sein.
Denn ab und an zieht es eben doch neugierige Schnüffler*innen aus der Ansammlung von Neubauten heraus, von dort weg, wo zwischen dem Bahnhof und der Autobahn-Ausfahrt «Prunzen-Nord» alle Pendler*innen wohnen. Da, wo Häuser in Reih und Glied beim Tod anstehen, sich mit ihren Vorgärten an der Asphaltschlange festhalten, als wären sie dann von jeder Sünde befreit. Und in ihnen wohnen stolze Besitzer*innen, Individuen ohne Ranken zur Welt, dafür mit Geld. Beine, Rasen, Charaktere, alle sind sie rasiert und kurzgeschoren, stoppelig und eingefroren, wie das letzte Feld in der Gegend, dass nun, im Winter, von alten Rüben und Frost bedeckt, ein wenig Atembietet.
Nur ein paar Verrückte steigen über die rutschigen Grasbüschel und kraxeln am Uferabhang weiter, dem Fluss entlang, bis sie an der Siedlung vorbei sind, biegen dann in Tierpfade ein, gehen an Pissecken und Müllsammelstellen vorbei…
… und wer dann im richtigen Moment abbiegt, wer das alte, quietschende Tor im rostroten Eisenzaun öffnet, dann weiter zur alten Fabrik marschiert und nicht allzu früh mit der Angst kooperiert, wer die riesige, verlassene Industriestadt durchquert, der endet irgendwann beim Schuppen:
«Zum Sternschnupfen» steht – in gelber, verbundener Schrift – auf ein Stück Holz gemalt da, wo aus dem Radio leise Musik ertönt. Alte Ländler, wo Mundharmonika und Hackbrett auftrumpfen, als gäbe es keine Gegenwart mehr. Und wer nahe genug ist, um die Musik zu hören, der kann auch schon bald lesen: Outlet der alten Gewohnheiten. Offen: Neun bis Siebzehn Uhr, Montag, Dienstag und Freitag.
Wer dann reingeht, der wird der Person begegnen, die überraschend alltäglich die herumstrolchende Kundschaft begrüsst, der wird sehen, wie sie dieser wieder den Rücken kehrt, ohne die sich in den Rücken bohrenden Augen zu spüren, um weiter Quitten zu pürieren oder alte Motoren zu reparieren.
«Was ist denn das hier?»
«Ein Outlet, das schlechte Angewohnheiten verkauft. Gewohnheiten, die keine mehr haben möcht’. Alles, was die Menschen nicht mehr an sich wollen also. Aber wer weiss schon, ob es sich nicht der einen oder anderen noch dienlich zeigt.» Sagt sie, und mit einem halbschattigen Augenzwinkern wendet sie sich wieder den zu reparierenden Motoren zu, oder den Quitten, oder was auch immer sie sonst da so macht.
In einem roten Plastikkorb neben der Kasse liegen bunte Knöpfe. «Rauchen» steht auf einem Schild, das am Korb befestigt ist. Frau*man muss sich nur noch Nadel und Faden und ein Jackett vorknöpfen, und schon trägt frau*man diese Gewohnheit wieder in sich. Frau*man weiss ja, dass anfangen leichter ist als aufzuhören. Aber Rauchen das ganze Leben durchziehen, das braucht einen langen Atem.
Hinter einem Vorhang, dieser ist mit klimpernden Kristallkegeln bestückt, gibt es «Tierpornos schauen» und «ab und an was mitgehen lassen». «Schokolade essen», «Jeden Morgen das Leben hassen», «im Frühling zum Christentum konvertieren» und «im falschen Moment Lachen» liegen, als kleine Schokoladenmünzen – in buntes Krepppapier eingewickelt – und in Glasdosen geschüttet im Regal.
«Ehrlichkeit» als altes Schaukelpferd, dem die Wolle aus den Löchern des Polsters quillt. In kleinen Kaffeetassen «Fantasie», als Zuckerpapierchen liegt «Shy Bledder», zu Deutsch «Schüchterne Blase» daneben. «Nett sein» ist quer über den Busen eines Hochzeitskleides gestickt und zwei Militärjacken sind am Namensschild mit «Erinnern» und «Vergessen» bestickt.
«Recht haben» hängt an einem Schild um den Hals eines ausgestopften Raben. Auf den Regalen im Mittelgang liegt, sortiert nach Kategorie, «Scham» als Schwamm, «Schweigen» als leere Verpackung einer Mundharmonika. «Lieben» ist tragisch mit Filzer auf ein weisses Lavendelkissen gekritzelt, «Bleiben» wurde mit blutrotem Garn in einen Pfannenplätz verstrickt. Ich greife mir eine Uhr ohne Zeiger mit der Aufschrift «Freiheit» und das Paar Strumpfhosen im Sonderangebot: «Sternschnupfen». Beides zusammen kostet 5.60 und ich frage nach einer Garderobe, um die Hosen zusammen mit der Freiheit zu tragen.