Die Einstellung zeigt den vierunddreissigjährigen Reporter Donat Hofer – er sitzt auf einer Bank zwischen Bäumen im Bremgartenwald. Neben ihm ein Thule-Kinderwagen, auf seinem Schoss ein Notizbuch, aus dem Off seine Stimme: «Sind die Waldmenschen von Bern asoziale Trittbrettfahrer oder Freigeister und eine Bereicherung für unsere Gesellschaft? Um Antworten zu finden, packe ich mein Zelt, ein paar Bratwürste und gehe in den Wald.»
Die Szene ist der Anfang eines dreissigminütigen Ausflugs in den Wald. Der Film mit dem Titel «Die Waldmenschen von Bern: Asoziale Aussteiger oder Freigeister?» ist eine Folge des neuen SRF-Reportageformats «SRF rec.». Das Online-Format «rec.» soll ein junges Publikum ansprechen und zeichnet sich dadurch aus, dass die Reporter*innen «aus ihrer Perspektive» berichten und «ihre Gedanken und Gefühle transparent für die Zuschauerinnen und Zuschauer» machen, heisst es auf dem SRF-Medienportal. «rec.»-Reportagen würden, so Ilona Stämpfli, Leiterin «rec.», in einer schlanken Produktionsweise produziert, was die Kosten tief halte. «Reporter:innen von ’rec.’ drehen, schneiden und vertonen ihre Reportagen grösstenteils selbst, was das Format von anderen SRF-Produktionen unterscheidet», schreibt sie dem megafon auf Anfrage.
Kontroverse um Leitfrage
Im Fokus des Dokumentarfilms von Donat Hofer stehen die sogenannten Waldmenschen, Urs Baumgartner und Martin Wyss alias «Chrütli», die gemeinsam mit anderen im Bremgartenwald in zeltähnlichen Bauten leben. Die beiden Protagonisten der Folge werden von Hofer zwei Tage lang mit der Kamera begleitet – er isst mit ihnen und schläft auf dem Platz in seinem Zelt. Für ihn sei es immer wieder schön, wenn sich Journalist*innen die Mühe machten, einige Tage mit ihnen zu leben, meint Martin Wyss später gegenüber dem megafon. «Eigentlich könnte der ja einfach kommen, kurz eine halbe Stunde ‘Take’ machen und dann wieder gehen».
Der Dokumentarfilm polarisiert nach seiner Veröffentlichung. In Youtube-Kommentaren wird der Reporter teilweise hart angegangen. Ursächlich für die geteilten Meinungen ist die Ausgangsfrage, die sich Hofer in seinem Beitrag beantworten wollte und die nun sauer aufstösst; «Sind die Waldmenschen asoziale Schmarotzer oder ein Mehrwert für die Gesellschaft?» Zu dieser Frage bezieht der Reporter im Verlauf des Films immer wieder Position. In Selbstaufnahmen, die für das neue SRF-Format typisch sind, bewertet er die beiden Protagonisten: «Da stelle ich mir die Frage, was die Waldmenschen von der Gesellschaft in Anspruch nehmen und was sie im Gegenzug leisten? In meinen Augen muss das auf die lange Sicht in der Balance sein, sonst leben sie asozial.» Am Ende der Folge sieht man Hofer in seiner Wohnung – Fokus Espressomaschine, Zimmerpflanzen, senfgelber Pullover – er zieht Fazit und kommt zum Schluss, dass «Chrütli» von der Gesellschaft profitiert aber auch gibt – wenn dieser asozial sei, dann nur ein bisschen, auf einem Niveau, das wir uns als Gesellschaft leisten können. Bei Urs Baumgartner stelle er sich die Frage, ob er in den nächsten zwei, drei Jahren gesund werde und wieder zurück ins System könne. Wenn ja, dann sei es okay. «Wenn er aber die nächsten zwanzig bis dreissig Jahre im Wald ‘rumhängt’ und ein schönes Leben hat auf Kosten des Sozialsystems, dann ist es asozial.»
«Asoziale» im Nationalsozialismus
Nebst des irritierend ökonomisch fokussierten in-die-Waagschale-legens der Lebensweisen der Protagonisten, ist der Begriff des «Asozialen» problematisch. Er wurde massgeblich durch die Nazis in Deutschland geprägt. Zwar sei der Begriff «Asozial» älter als der Nationalsozialismus, schreibt Sozialarbeiter und Historiker Wolfgang Ayaß, der zum Thema «’Asoziale’ im Nationalsozialismus» habilitierte, dem megafon auf Anfrage. Ein erstes Mal in einem grossen Konversationslexikon sei er im «Grossen Brockhaus» 1928 aufgetaucht. Jedoch setzt er sich, laut Ayaß, in der NS-Zeit «als Sammelbegriff für abweichendes Verhalten unterschiedlicher Art» umfassend durch und verbreitete sich ab Mitte der dreissiger Jahre rasant. Wer in Nazideutschland als asozial galt, wurde weggesperrt – ab 1938 auch in Konzentrationslager. Als asozial bezeichnet wurden Bettler*innen, Landstreicher*innen und Fahrende, aber auch mittellose Alkoholkranke, Menschen, die mit Unterhaltszahlungen im Rückstand waren und alle als arbeitsscheu eingeschätzten Fürsorgeempfänger*innen – in der NS-Ideologie alles Menschen, die die «Volksgemeinschaft» belasten. Vor diesem Hintergrund wirkt die Leitfrage des Beitrages über die «Waldmenschen» geschichtsvergessen und deplatziert.
Dies findet auch Nora Hunziker von der «Gassenarbeit Bern». Auf dem Facebook-Account der Gassenarbeit wurde die rec.-Folge mit einer kritischen Anmerkung geteilt. «Der Reporter sollte sich mit der Herkunft des Wortes ‘asozial’ im Nationalsozialismus auseinandersetzen», lässt Hunziker gegenüber dem megafon verlauten. Sie sei schockiert, dass solch ein reisserischer Beitrag mit dieser Wortwahl über das SRF veröffentlicht wird. «Zudem finde ich es schwierig, die Menschen einer derart neoliberalen Verwertungslogik unterzuordnen. Als ob es nur Menschen gäbe, die der Gesellschaft auf der Tasche liegen und Wertvolle, die schön produktiv sind, Steuern zahlen und selbstverantwortlich zu sich schauen.» Erstaunt zeigt sie sich darüber, dass bei SRF anscheinend nicht im Vier-Augen-Prinzip gearbeitet würde. «Warum hat niemand reagiert, bevor der Beitrag veröffentlicht wurde? Sind die Journis einfach zu wenig sensibilisiert darauf, was sie mit solchen Beiträgen auslösen können?»
Verpasste Chance
Zu den Vorwürfen äussert sich Ilona Stämpfli, Leiterin von «SRF rec.», gegenüber dem megafon dahingehend, dass jede Reportage vor der Publikation einem Qualitätscheck unterzogen werde. «Diese Video-Abnahme erfolgt immer nach dem Vier-Augen Prinzip. Das Einhalten der publizistischen Leitlinien ist dabei zentral. Der Entscheid, ob eine Reportage online gehen kann oder nicht, erfolgt nach denselben Kriterien wie bei anderen SRF-Produktionen.» Die Leitfrage des Films sei nicht von Donat Hofer allein, sondern gemeinsam im «rec.»-Team bestimmt worden. Der Reporter habe, so Stämpfli, den Begriff «asozial» umgangssprachlich im Sinne von «unsozial, unsolidarisch, am Rande der Gesellschaft lebend» verwendet – die historische Bedeutung des Begriffs sei ihnen während der Dreharbeiten nicht bewusst gewesen. Dass auch im später veröffentlichten Q&A zur Folge die historische Vorbelastung des Begriffs nicht thematisiert wurde, betrachtet Stämpfli als verpasste Chance.
Die beiden Bewohner der Wald-WG sind sich der negativen historischen Konnotation des Begriffs bewusst. Urs Baumgartner findet es aber gut, dass jetzt über den Begriff diskutiert wird. Wenn es «asozial» sei, einen alternativen Ort zur «geldkranken» Gesellschaft zu schaffen, an dem sich Menschen mit zum Teil heftigen psychischen Diagnosen wohl fühlen könnten, dann seien sie halt asozial – und dann sei das auch nicht schlimm. Dann gebe es aber verschiedene Auffassungen des Begriffs – er selbst finde es eher asozial, nur dem Geld hinterherzurennen und ein krankes System aufrechtzuerhalten. Die beiden sind nicht vollumfänglich zufrieden mit der Unterstellung, sie gäben der Gesellschaft nichts oder nichts Sichtbares zurück. Sie lebten im Wald viel ressourcenschonender als Menschen in den Städten, sie würden viel Abfall im Wald zusammenlesen und seien mit ihrer Wald-WG ein Auffangplatz für Menschen, die durch die Maschen des sozialen Netzes gefallen sind. «Also für mich stimmt das, ist das ein Nullsummenspiel. Da sollten sich gewisse ‘hohe Herren’ eher mal ein bisschen zurücknehmen», so Wyss. Im Allgemeinen sind sie mit der SRF-Folge aber zufrieden. Sie hätten Hofer beide als herzlichen und offenen Menschen erlebt, der zwar eine bestimmte Sichtweise gehabt habe – die nun auch kritisiert werde – aber grundsätzlich sei dieses Infrage-Stellen ihrer Lebensweise aus der Sicht des Otto-Normalverbrauchers okay.
Aus Fehlern lernen
Nora Hunziker findet, wir müssen verstärkt über Begriffe sprechen, die wir für Menschen verwenden, die nicht in unser Bild passen. ’Asozial’, ‘Randständig’, ‘Junkies’ und so weiter. Das sind Begriffe, die breit genutzt werden und die diskriminierend sind. Wenn über marginalisierte Gruppen gesprochen wird, werden sie immer in dasselbe Licht gestellt und nur mit Perspektive auf ihre ‘Probleme’ oder die Probleme, welche sie für die Gesellschaft generieren dargestellt.» Der Reporter hätte, so Hunziker, durchaus anders an die Geschichte herangehen können. Es wäre möglich gewesen, einfach in den Wald zu gehen und die «Waldmenschen» erzählen zu lassen, weshalb sie so lebten. Das hätte schon viel hergegeben. Als allgemein problematisch hat sie ausserdem die lässige Kameraführung und die Selbstaufnahmen empfunden, in denen Hofer über die «Waldmenschen» spricht. «Er geht zu ihnen, profitiert von ihrer Gastfreundschaft und ’lästert’ dann eigentlich über sie ab.» Im Q&A zur Folge äussert sich Hofer zur Kritik. Er sehe ein, dass die hauptsächlich ökonomische Bewertung der beiden und die Verwendung des Begriffs einige irritiert habe, er könne die Kritik verstehen und sei dankbar dafür. Auch Ilona Stämpfli, Leiterin «rec.», sieht Fehler ein. Bei einem erneuten Dreh der Folge würden sie auf das Wort «asozial» verzichten. Die Leitfrage für den Beitrag bliebe aber dieselbe. Als der Beitrag in einer angepassten Version auf «Reporter» im Live-Fernsehen gezeigt wurde, fehlte die Schlussszene; das «Bilanz-Ziehen» in Hofers Wohnung wurde komplett entfernt. Das Wort «asozial» ist aus dem Titel der Sendung verschwunden – auch aus der Erzählspur des Reporters wurde der Begriff vielfach entfernt. Beide Versionen sind noch über die SRF-Webseite abrufbar..
*Donat Hofer durfte sich aufgrund der SRF-Medienrichtlinien nicht direkt gegenüber dem megafon äussern.