Schwingen Text: cap | Bild: gini

A short history of «Hoselupf»

Wie nationalistische Narrative und eine patriarchale Gesellschaftsstruktur aus einem verbotenen Hirtensport einen Nationalsport machten und wieso genau deshalb das Reitgenössische Schwingfest ein wichtiger Beitrag zum Schwingsport ist.

Das Sägemehl ist ausgestreut, die «Haubeli Wisse» sind kaltgestellt, die «Villiger-Chrumme» angeraucht und die Zwilchhosen liegen bereit. Heuer jährt sich zum dritten Mal das Reitgenössische Schwingfest. Also schon fast ein Traditionsanlass, an dem eine national-konservativ geprägte Traditionssportart ziemlich neu gedacht wird. Wieso es das braucht in der Reitschule? Ganz einfach um zu zeigen, dass der Schwingsport auch inklusiv und definitiv mehr sein kann, als nur ein männerdominiertes Volksspektakel sturer Nationalist*innen. Übrigens passt es auch hervorragend in die Schwinggeschichte, dass im städtischen Umfeld neue Wege für den Schwingsport gesucht werden. Aber alles der Reihe nach. Um zu verstehen, wie ein einst verbotener Hirtensport zum extrem konservativ aufgeladenen Nationalsport wurde, wieso das Schwingen bis heute grossmehrheitlich eine Männerdomäne ist und wieso vielleicht schon der nächste Schwingerkönig endlich mal kein prototypischer Bauernsohn sein könnte, lohnt sich ein kurzer Blick auf den Werdegang dieser Sportart.

Ein verpönter Hirtensport wird zum  Nationalsport

Die Ursprünge des Schwingens liegen vermutlich im ländlichen Mittelalter. Eine erste mögliche bildliche Darstellung stammt aus dem 13. Jahrhundert, konkretere Erwähnungen schwingähnlicher Ringkämpfe finden sich dann in diversen amtlichen Quellen ab dem 15. Jahrhundert. In den innerschweizerischen Alpen gab es Hirtenfeste mit Wettkämpfen, an welchen unter anderem auch geschwungen wurde. Ausserhalb des ruralen Alpenraums sind Ring- und Schwingwettbewerbe aber auch mehrfach in mittelalterlichen Städten belegt. Da die Wettkämpfe meist im Rahmen von Jahrmärkten, Volksfesten oder Kirchenweihfesten stattfanden, waren sie stets auch mit viel Trubel und dem ausgelassenen Treiben solcher Feste verbunden. Dies führte dazu, dass das Schwingen den Obrigkeiten und insbesondere den kirchlichen Würdenträgern bald ein Dorn im Auge wurde. Das, in ihren Augen «regellose Balgen» und unsittliche sportliche Vergnügen der einfachen Bevölkerung missfiel der Oberschicht und aus Sicht des Klerus hielt es die jungen Männer davon ab, regelmässig die Kirchen zu besuchen. Ab dem 16. Jahrhundert wurden das Schwingen und das Ringen daher in vielen Städten durch Sittenmandate reguliert oder gleich ganz verboten. Obschon diese Verbote das Schwingen zwar nie ganz zum Verschwinden brachten, wurde es von grossen Teilen der Bevölkerung geächtet und konnte bis ins 19. Jahrhundert meist nur unter starken Einschränkungen ausgeübt werden. Im heute patriotisch verklärten «Urkanton» Nidwalden bestand ironischerweise ein 1682 erlassenes Schwingverbot sogar bis 1908. Im Zuge der Nationalstaatenbildung und durch aufkommenden Tourismus kam es im Laufe des 19. Jahrhundert bei der städtischen Bevölkerung zu einem neuen Interesse an alpiner Natur, ländlichem Leben und Folklore. Diese Romantisierung des alpinen Landlebens manifestierte sich nebst etwa der «Wiederentdeckung» des Alphorns, dem Bau von pseudoalpinen Chalets und Telldenkmälern, auch in einer Neuerfindung der alpinen Hirtenwettkämpfe. Lokales Brauchtum wurde zu nationalem erhoben und die städtische Bevölkerung begann bäuerliche Sportarten in den Städte zu etablieren und sie dort neu als eidgenössische Nationalspiele zu propagieren. Das erste Unspunnenfest 1805 bestand aus Schwing- und Steinstosswettkämpfen, sowie einer hochstilisierten Zurschaustellung des ländlichen Trachtenwesens. Diese eifrige Inszenierung einer nationalen Zusammengehörigkeit wurde durch den damaligen Berner Schultheissen von Mülinen und weitere Berner Burger initiiert. Auch das inoffiziell erste eidgenössische Schwing- und Älplerfest im heutigen Sinne wurde 1889 im städtischen Umfeld von Zürich unter der Leitung eines Zürcher Professors veranstaltet. Kurz: Eine nationalistische Bourgeoisie vereinnahmte das Schwingen für ihre Zwecke und erhob den verpönten Hirtensport zum Nationalsport.

Konservativismus, politische Instrumentalisierung und Kommerz

Wesentlich für die Popularisierung des Schwingens war auch die Verbreitung des Turnwesens unter den Städter*innen im 19. Jahrhunderts, das zur «Ertüchtigung der Nation» stark gefördert wurde. Das schweizerische Turnwesen war allerdings anfänglich hauptsächlich durch die in Preussen begründete Turnbewegung geprägt und etliche Schweizer Politiker fürchteten einen zu grossen ausländischen Einfluss. Unter dem Motto «Schweizer turnt schweizerisch!» begannen viele Turnvereine daher lokale sportliche Wettkampfarten, wie das Schwingen, in ihren Turn- und Wettbewerbsbetrieb aufzunehmen und zu fördern. Als Folge der Vereinnahmung und Förderung des Schwingens durch die Städte und den Schulterschluss mit dem städtischen Turnen, wurde der Drang nach einer besseren Koordinierung und Organisation des Schwingwesens bald sehr gross. 1895 gründete sich in Bern der Eidgenössische Schwingverband (ESV). Noch im selben Jahr fand dann auch das erste offizielle Eidgenössische Schwing- und Älplerfest (ESAF) in Biel statt. Der Schwingsport war von Beginn der Verbandsgründung weg ein extrem nationalistisch aufgeladenes Produkt. So war etwa in der Erstausgabe der Eidg. Schwingerzeitung von «Reinheit der Tradition» die Rede und das vermeintlich uralte, traditionelle Schwingen wurde dem «importierten Sport» (Radrennen, Tennis usw.) entgegengestellt. Nationalistisch-konservatives Gedankengut und ein strikter Abgrenzungskurs zu anderen Sportarten und Verbänden (abgesehen von Hornussen, Jodeln und Fahnenschwingen) prägten den Schwingsport und seine Entwicklung im 20. Jahrhundert. Im Rahmen der politisch-kulturellen Bewegung der geistigen Landesverteidigung während des Zweiten Weltkriegs und der antikommunistischen Propaganda des Kalten Krieges wurde der Schwingsport von politischer Seite konstant ideologisiert und instrumentalisiert. Schwinger wurden als Verkörperung des wehrhaften und bodenständigen Schweizers vermarktet und Bundesräte oder hohe Militärs nutzten die Plattform der Schwingfeste regelmässig für ihre politische Agenda und unverhohlene Armeepropaganda. Der ESV selbst verweigerte sich lange konsequent jeglicher Modernität, schloss etwa 1971 mehrere Schwinger mit langen Haaren aus, bekämpfte die zunehmende Kommerzialisierung des Sports und verhängte harte Sanktionen gegen Schwinger, die ihren sportlichen Erfolg vermarkteten. Die wachsende Popularität, zunehmendes Interesse der Medien, sowie ein steigendes Niveau der Wettkämpfe führte um die Jahrhundertwende aber schliesslich zu einer Professionalisierung der Veranstaltungen und Athleten. Schwingen wurde zu einem Big Business und das ESAF – mit über 400`000 Besuchenden und rund 80 Millionen Franken Umsatz – der grösste wiederkehrende Sportanlass der Schweiz. Vor diesem Hintergrund erscheint es schon fast skurril, dass seit der Gründung des ESV an allen Schwingwettkämpfen des Verbands stets auch Ausländer zugelassen waren. Notabene, da kurz nach der Verbandsgründung prompt ein Franzose zum zweiten Schwingerkönig der Geschichte wurde und damit gleich einen grossen Skandal im jungen Schwingverband auslöste. Der elsässische Gastarbeiter Alfons Thurneysen gewann 1897 überraschend das zweite offizielle ESAF, worauf ihm der Verband die Krönung zum Schwingerkönig verweigerte. Es dauerte gut 30 Jahre, bis dem mittlerweile eingebürgerten Thurneysen der Titel nachträglich doch noch zugesprochen wurde. So schwer sich der ESV mit einem ausländischen Schwingerkönig auch tat, umso schwerer tat er sich mit Schwingerinnen.

Der erste «Frauenschwinget» (1) und der EFSV

So wie in diesem Text bisher lediglich das generische Maskulin in Verwendung kam, so war das Schwingen bis 1980 durch und durch eine Männerangelegenheit. Kämpfende Frauen in Zwilchhosen waren für viele lange schlicht undenkbar und so war der erste «Frauenschwinget» wohl auch ein veritabler Schock für viele Schwingbegeisterte Traditionalist*innen. Ein Journalist schrieb 1980 höchst alarmiert: «Eine der letzten und solidesten Männerbastionen ist in Gefahr!». Der Startschuss für den Frauenschwingsport ist der unerschrockenen Wirtin Dora Hari zu verdanken. Kritiken, Schmähungen, Gewalt- und Morddrohungen zum Trotz veranstaltete sie am 17. August 1980 in Aeschi bei Spiez das erste Frauenschwingfest. Das mediale Echo war beachtlich, die Kritik der Gegner*innen erdrückend und der ESV drohte seinen Verbandsmitgliedern mit Sanktionen, sollten sie sich in irgendwelcher Form am Anlass aktiv beteiligen. Nichtsdestotrotz wurde der Anlass zum Erfolg und statt der erwarteten ca. 500 Zuschauenden kamen über 15`000 Menschen. Auch wenn dieses Schwingfest den vorläufigen Höhepunkt des Frauenschwingens markiert, bildete es den Grundstein für die Etablierung des Frauenschwingens und die spätere Gründung des Eidgenössischen Frauenschwingverbands. Auch wenn die Publikumszahlen danach stark sanken, wurden in den Folgejahren nun jährlich mehrere Frauenschwingfeste organisiert. Da sich der ESV aber weiterhin weigerte, das Frauenschwingen anzuerkennen, Frauen im Schwingsport in irgendeiner Weise zu unterstützen oder Schwingerinnen im eigenen Verband aufzunehmen, kam es 1992 zur Gründung des Eidgenössischen Frauenschwingverbands (EFSV). Der EFSV organsiert seither jährlich mehrere Frauenschwingfeste und kürt eigene Schwingerköniginnen. Bei der Anzahl der Anlässe, den Besuchendenzahlen und den finanziellen Mitteln klafft aber bis heute noch ein grosser Graben zwischen dem Männer- und dem Frauenschwingen. Wurden beim ESAF 2023 unter anderem Preise im Wert von über einer Million Franken vergeben, liegt zum Vergleich der Wert der Preise an den grössten Frauenschwingfesten ungefähr im Wertbereich von 25`000 Franken. Diese langsame Entwicklung im Frauenschwingsport liegt zu einem grossen Teil auch daran, dass der ESV den EFSV und das Frauenschwingen über die Jahre hinweg nicht nur kritisiert hat, sondern dessen Entwicklung bis vor kurzem auch aktiv behindert hat. 2006 wurde etwa vom Schwingklub Kerzers ein Schwingfest durchgeführt, an dem zum ersten Mal sowohl Männer- als auch Frauenwettkämpfe der beiden Verbände ausgetragen wurden, woraufhin der ESV den Schwingklub rügte und sanktionierte. Trotz der Kritik vieler Schwingfans und diverser Medien an der Reaktion des ESV, kam es danach nie wieder zu einem offiziellen Schwingfest mit beiden Geschlechtskategorien. Auch wenn im offiziellen Schwingsport die Situation punkto Gleichstellung bis heute desaströs ist, kam es 2023 zur Gründung einer gemeinsamen Arbeitsgruppe, mit dem Ziel den Austausch und die Annäherung beider Verbände zu fördern. Was zwar nur eine kleine und reichlich späte Entwicklung ist, könnte ein erster Schritt auf dem (leider wohl noch langen) Weg in eine Zukunft sein, in der Schwinger*innen und Schwingwettkämpfe aller Geschlechter gleiche Anerkennung und Beachtung erhalten.

Idole und Chancen

So konservativ der Schwingsport und sein Umfeld auch sein mögen, so zeigen sich in den letzten Jahren in dieser Hochburg de Traditionalismus auch interessante Anzeichen für progressives Potenzial. Mit dem Spitzenschwinger Curdin Orlik besitzt der Schwingsport einen der wenigen offen homosexuellen Sportler der Schweiz, welcher sich auch ausdrücklich für die Rechte und die Sichtbarkeit von LGBTQI+-Menschen im Sport einsetzt. Zudem mischt gerade der achtzehnjährige KV-Lehrling Sinischa Lüscher, der von vielen als aktuell grösstes Nachwuchstalent und möglicher zukünftiger Schwingerkönig gesehen wird, als Person of Color das Feld der Spitzenschwinger ordentlich auf. Es wäre auf jeden Fall ungemein erfrischend, wenn ein Schwinger wie Sinischa Lüscher zur Abwechslung die prototypischen, weissen Bauernsöhne an der Spitze des Schwingsports ablösen würde. Die Signalwirkung von Menschen wie Orlik oder Lüscher ist, besonders im Hinblick auf das ländliche und konservative Umfeld des Schwingsports, extrem wichtig. Ist doch die Ablehnung von Vielfalt durch konservative Menschen in ländlichen Gegenden, oft zu einem gewissen Teil auch dem Fehlen von entsprechenden Bezugspersonen oder sichtbaren Idolen geschuldet. Trotz dieser Lichtblicke sind am Ende des Tages aber Inklusion und Gleichstellung nach wie vor Fremdwörter in der Schwingwelt. Es ist nicht so, dass es nicht immer wieder Bestrebungen geben würde den Schwingsport neu zu denken. 1919 bis 1980 existierte etwa der Arbeiterschwingverband, als sozialistischer Gegenentwurf zum national-konservativ ausgerichteten ESV. Daneben gab es immer auch verschiedenste kleinere Bewegungen und Veranstaltungen, wie etwa der «Künstlerschwinget» in Wolfenschiessen in den 1980er Jahren oder seit 2022 das «Reitgenössische Schwingfest» in der Reitschule, an denen alternative und inklusivere Herangehensweisen an den Schwingsport gesucht wurden und werden. Aufgrund seiner Monopolstellung läge die Verantwortung eigentlich beim ESV, seine konservative Hülle (zumindest teilweise) abzustreifen und neue Wege in Richtung Inklusion und Gleichberechtigung zu gehen. Solange dies aber nicht geschieht, braucht es unbedingt Veranstaltungen wie das Reitgenössische, um zumindest ansatzweise zu verhindern, dass der Schwingsport ein reines Männerspektakel für sture Nationalist*innen bleibt.

(1) Der schweizerdeutsche Begriff für «Schwingfest». Offiziell sprechen die Verbände meist von «Schwingfest». «Schwinget» wird meist mehr so als umgangssprachliches, urchiges Synonym verwendet. Gleich verhält es sich mit dem Wort «Hoselupf», welches im Titel dieses Textes steht und auch eine Bezeichnung für Schwingen ist.