Der Roman «Drei Kameradinnen» erzählt von den drei Freundinnen Kasih, Hani und Saya. Die Protagonistinnen teilen Erinnerungen und Erfahrungen, geprägt vom Aufwachsen in der Siedlung einer deutschen Kleinstadt, von eigenen Migrationsgeschichten, und denjenigen der Eltern. Erinnerungen und Erfahrungen, geprägt auch von Mikroaggression, von Alltagsrassismus und Sexismus. Die Erzählung beginnt mit einem Zeitungsartikel, in dem Saya beschuldigt wird, den Brand eines Wohnhauses verursacht zu haben. Kasih ist die Erzählerin dieses Romans mit verschiedenen Erzählsträngen. Mal spricht sie die Leser*innen, welche die Beschuldigungen in den Zeitungen am nächsten Tag lesen werden, direkt an, mal erzählt sie von zurückliegenden Ereignissen oder von den gemeinsamen Tagen mit der anpassungsbereiten Hani und der kämpferischen Saya vor dem Brand. Vor allem aber erzählt der Roman die Geschichte vom Bündnis dreier Kameradinnen, die bedingungslos zusammenstehen.
Wir, die Leserinnen, sind Nurhayat und Olivia. Kameradinnen sind wir beide auch. Wir leben in derselben Stadt, interessieren uns für ähnliche Themen, tauschen uns über Sorgen und Freuden aus. Und doch bedeutet die gleiche Welt für uns nicht die gleiche Realität. Nurhayat ist in einem postmigrantischen Kontext aufgewachsen. Olivia hingegen gehört zur Weissen Dominanzgesellschaft. Unsere unterschiedlichen Realitäten und Perspektiven haben uns, wie wir immer wieder feststellen, beim Lesen des Romans stark beeinflusst. Wir treffen Shida Bazyar Online zum Gespräch.
m*: Fehlt es an Geschichten über Kamerad*innen- und Freund*innenschaft unter FINTA*-Personen?
Shida Bazyar: Ja. Und ich glaube, das ist eine Strategie. Sobald sich marginalisierte Gruppen zusammentun, wird das von der Dominanzgesellschaft belächelt. Das geschieht gerade auch bei Freund*innenschaften unter FINTA*-Personen, weil durch diese Bündnisse auch Widerstand entsteht. Das macht es für das Patriarchat so gefährlich, wenn Geschichten über Geschwisternschaft, Kompliz*innenschaft und Kamerad*innenschaft erzählt werden, die Cis-Männer ausschliessen.
Aus diesem Grund wird so getan, als ob Geschichten über diese Freund*innenschaften keine ganzen Geschichten sind und nicht erzählenswert seien. Wir wachsen im Wissen auf, dass wir, um Erfolg zu haben und gehört zu werden, besser alleine auftreten, weil der Platz begrenzt ist. Ich finde es sehr schön zu sehen, gerade unter Literaturschaffenden, dass entgegen dieser Vorstellung, BPoC-Autorinnen sich gegenseitig die Bälle zuwerfen. Das System will zwar eine von uns loben und andere unsichtbar machen. Aber ich glaube, wir sorgen gegenseitig schon sehr dafür, dass man uns hört und wahrnimmt, dass wir nicht alleine sind.
m*: Wir beide haben festgestellt, dass Nurhayat beim Lesen eher die Rolle einer vierten Kameradin einnimmt, während sich Olivia, besonders in den Momenten in denen Kasih direkt die Lesenden anspricht, mit ihrer Position als Weisse Person konfrontiert sieht. Wie bewusst hast du an gewissen Stellen nur die Dominanzgesellschaft angesprochen? Und was hast du dir überlegt, was in den Momenten mit allen anderen passiert?
Shida: Ich bin immer etwas irritiert, wenn Lesende sagen, dass der Roman sie an gewissen Stellen direkt angesprochen hat. Ich bin nicht davon ausgegangen, dass das die Leseart ist, weil ich mir Kasih auf einer Theaterbühne vorstelle. Sie spricht aus dem Text heraustretend an das Publikum, das am folgenden Tag die Zeitung lesen wird. Ein Publikum, das beim Lesen der Zeitung dieser und den darin aufgerufenen Stereotypen mehr glauben wird. Kasih versucht schneller zu sein. Etwa in der Passage: «Dann haben wir Life getroffen. Und ihr wollt jetzt sicher wissen, wer Life ist. Weil ihr kennt die Opfer ja nie». Sie nimmt da Sachen vorweg, die die Lesenden sowieso gar nicht wissen können. Ich bin also nicht davon ausgegangen, dass Menschen sich so involviert fühlen. Ich habe eher gedacht, dass Menschen, die rassifiziert werden, sich an dieser Stelle einfach nicht angesprochen fühlen. Und Menschen, die wissen, dass sie damit potentiell gemeint sein könnten, von sich aus denken: «Aber ich ja nicht, das sind ja die dummen Leute, die gemeint sind.» Ich halte es aber für eine gute Sache, dass die Leseerfahrung als ein Angesprochen-Sein beschrieben werden kann. Das bedeutet ja, dass sich viele Weisse Lesende bereits in einem Prozess befinden und ein Bewusstsein für das Thema besteht.
m*: Die Fremdmarkierung wird im Roman umgekehrt, wodurch für einmal die Weissen Lesenden in Erklärungsnot kommen.
Shida: Ja, die Literatur hat meistens rassifizierte Figuren als fremd markiert und auch sonst in der Gesellschaft war die Kategorie Weiss als Konstrukt immer das Unbenannte. Ich verstehe, dass es da Reibungen gibt. Es gibt Menschen, die sagen: «Das Buch hat mich beschimpft. Ich kann doch auch nichts dafür.» Ich glaube aber, das hat weniger mit Literatur zu tun, als mit den gesellschaftlichen Prozessen, die es unabhängig von der Literatur gibt, die durch diese aber sichtbar gemacht werden.
m*: Die Erzählerin Kasih macht wiederholt verallgemeinernde Aussagen, um diese umgehend wieder aufzulösen: «Wir sind nicht wie ihr. Wahrscheinlich sind wir doch wie ihr.» Oder: «Wir sind nicht traumatisiert. Wahrscheinlich sind wir doch traumatisiert.» Was steht aus deiner Sicht hinter dieser rhetorischen Form?
Shida: Ich wollte keine Figur haben, die eine reine Veste hat. Es wäre inkonsequent, über diese Diskriminierungskategorien zu schreiben und dann so zu tun, als wären diejenigen, die darunter leiden, also die drei Kameradinnen, moralisch erhaben. Das finde ich auch literarisch langweilig. Deshalb ist es für mich wichtig, dass auch die drei Kameradinnen in dieses Denken verstrickt sind. Gerade Saya, die ja eine Art «Rächerin der Unterdrückten» ist, hat am Ende einen gros-
sen blinden Fleck und ihre eignen Privilegien so gar nicht auf dem Schirm. Ich finde das wichtig, weil ich nicht der Meinung bin, dass es nur Weisse Menschen sind, die Rassismus ausüben. Ich finde auch in meinen eigenen Gedanken rassistische Formen und Figuren wieder, die ich rekonstruieren möchte.
m*: Kasih ist ja auch eine zynische Protagonistin, die man nicht immer so ernst nehmen darf.
Shida: Ja genau, das fand ich im Literaturclub-Gespräch im Schweizer Fernsehen auch so schön. Da hat jemand gesagt, dass Kasih auch eine sehr unfaire Erzählerin ist. Und genau das wollte ich. Ich glaube genau das ist im rassistischen System mit drin, dass wenn rassifizierte Figuren sprechen, diese irgendwie automatisch und umfassend auf der «guten Seite» sein sollen. Wenn wir das grosse Wort der «Opfer» nehmen: dann sollen «Opfer» immer «Opfer» sein. Das ist natürlich wahnsinnig gefährlich und verkennt vieles. Zum Beispiel, dass sich Menschen überhaupt wehren können und dies auch tun. Oder umgekehrt, dass sie sich wehren könnten und es nicht tun.
m*: Im Roman sprechen die Protagonistinnen ambivalent über ihre Schutzräume – Räume bzw. Freundinnenschaften, welche durch gesellschaftliche Zuschreibungen überhaupt entstehen, den Anspruch aber mit sich bringen, dass in diesen niemand diskriminiert wird oder Othering erlebt. Die Schutzräume der drei Kameradinnen sind soziale Konstrukte, welche auch die Schattenseiten des stetigen Widerstandes gegen die gesellschaftlichen Zuschreibungen mit sich bringen. An einer Stelle sagt Kasih, dass es für eine Freundinnenschaft mindestens eine Kindheit, mindestens ein halbes Leben oder mindestens zwei Diskriminierungskategorien brauche. Ohne dies würde etwas irgendwann komisch werden und sie würde sich doch wieder aus der Beziehung winden wollen. Einige Seiten vorher sagt die gleiche Protagonistin: «Was bringen uns unsere Schutzräume eigentlich, wenn wir uns in ihnen eher unseren hässlicheren Seiten hingeben? Wir sollten viel öfter mit Robin und Iris Nudeln essen.»
Welche Rolle spielt diese Freundinnenschaft, wenn man sie denn als Schutzraum begreift, für die Beteiligten?
Shida: In dieser ersten Szene wollte ich darstellen, dass diese Kameradinnenschaft, so schön sie auch ist, auch das Potenzial für Ausschlüsse mit sich bringt. Ich habe zuvor überschwänglich dargelegt, wie sehr BPoC-Autorinnen auch öffentlich zusammenhalten. Gleichzeitig weiss ich auch: Wenn wir das tun, schliessen wir auch immer Leute aus. Und damit meine ich auch die weniger bekannten BPoC-Autorinnen, die nicht bei grossen Publikumsverlagen sind oder deren Texte einfach unbeachtet bleiben. Das bedeutet, dass der Moment des Bündnis-Bildens auch ein Moment des Ausschlusses ist, den man auch hinterfragen und mitdenken muss. Die zwar unfaire und unreflektierte Art von Kasih ist gleichzeitig auch sehr nachvollziehbar. Sie fragt sich: «Ey, warum soll ich mich mit Leuten abgeben, bei denen ich mich ein Stückweit immer erklären muss, während ich andernorts einen geschützten Raum habe, in dem ich das nicht muss.» Dieser geschützte Raum birgt eben wiederum die Gefahr, dass man in ihm durch den stetigen Widerstand gegen die Aussenwelt verletzt wird, oder traurig ist. Diese Erkenntnis von Kasih scheint mir sehr wichtig.
m*: An einem Punkt sagt Kasih: «Seit Lukas weg ist, habe ich wieder eine Farbe», und beschreibt damit die Erfahrung, dass durch eine romantische Beziehung mit einer Weissen Person ihr nicht-Weiss-sein zwischenzeitlich verdeckt wird. Hier handelt es sich um Wirkungen rassistischer gesellschaftlicher Verhältnisse, die nicht direkt auf konkrete, einzelne rassistische Handlungen zurückgeführt werden können. Fehlen uns Begriffe, um über solche Erfahrungen sprechen zu können?
Shida: Ich habe tatsächlich das Gefühl, dass da Begriffe fehlen. Es ist wirklich schwierig, dass das Wort Rassismus für die kleinsten Handlungen wie auch für die grossen mordenden Handlungen benutzt wird. In einer Welt, in der man eigentlich immer noch dabei ist zu erklären, dass es Rassismus gibt und unser Tun auf einem rassistischen System aufbaut, macht es das Sprechen über Rassismus schwierig. Menschen leugnen Rassismus noch immer. Sie tun es sehr versteckt. Sie machen es auch im Schatten irgendwelcher Debatten, aber im Grunde leugnen sie es. Deshalb habe ich auch manchmal das Bedürfnis andere Wörter zu haben, um andere Schattierungen und Abstufungen von Rassismus zu benennen. Andererseits ist es natürlich auch eine Strategie so zu tun, als hätte man es immer noch nicht verstanden. Deshalb frag ich mich, ob weitere Begriffe diesen Modus des Erklärens wirklich beenden würden.
Glossar:
FINTA*: Steht für Frauen, Inter Menschen, Nichtbinäre Menschen, Trans Menschen und Agender Menschen: Personen, die vom Patriarchat unterdrückt werden.
Weiss: Wird oft in Rassismus-Debatten benutzt und steht nicht für die Hautfarbe. Es ist eine gesellschaftspolitische Norm und Machtposition damit gemeint, mit welchen bestimmte Privilegien einhergehen.
Cis: Sie drückt aus, dass eine Person sich mit dem Geschlecht identifiziert, dem sie bei der Geburt aufgrund der Genitalien zugewiesen wurde – Cis ist das Gegenstück von Trans.
BPoC: Black and People of Color: Ist eine Selbstbezeichnung von Menschen mit Rassismuserfahrung, die nicht als Weiss und westlich wahrgenommen werden und sich auch selbst nicht so definieren.
Othering: Ist ein Prozess, in dem Menschen als «Andere» konstruiert und von einem «Wir» unterschieden werden. Diese Differenzierung ist problematisch, da sie mit einer Distanzierung einhergeht, die «das Andere» als «das Fremde» aburteilt.
Shida Bazyars Romandebüt «Nachts ist es leise in Teheran» erschien 2016 im Verlag Kiepenheuer & Witsch und wurde in mehrere Sprachen übersetzt. «Drei Kameradinnen» ist ihr zweiter Roman wurde im April 2021 ebenfalls bei Kiepenheuer & Witsch publiziert und war für den Deutschen Buchpreis 2021 nominiert.