Bin ich krank oder einfach faul?

Die Invalidenversicherung (IV) kann für psychisch und physisch Kranke eine relevante Stütze sein. Auch für junge Menschen. Doch einmal mehr steht die Gesundheit von jungen Menschen nicht im Zentrum. Dafür wird die Realität von chronisch Kranken verkannt und ökonomisiert. Die persönliche Recherche einer Betroffenen zur IV und psychischen Erkrankungen junger Menschen.

Vor etwa einem Monat publizierte das Schweizer Radio und Fernsehen (SRF) einen Beitrag zum Thema junge IV-Rentner*innen. Darin wird thematisiert, dass die Zahl junger IV-Rentner*innen steigt. Fachleute und junge betroffene Menschen kommen zu Wort. Niklas Baer, Leiter der Abteilung der Fachstelle für psychiatrische Rehabilitation, und Forschender der Psychiatrie Baselland, sagt im Beitrag, es seien heute nicht mehr Leute psychisch krank als früher, sondern es könnten mittlerweile mehr Betroffene behandelt werden. Studien der Berner Fachhochschule werden diesbezüglich etwas genauer. Sie zeigen, dass seit einigen Jahren mehr über psychische Krankheiten gesprochen wird. Die Prävalenz – die Häufigkeit des Auftretens – psychischer Erkrankungen steige aber nicht, so die Studie, doch die Inanspruchnahme psychiatrischer Dienstleistungen nehme zu. Anders gesagt: psychische Erkrankungen werden heute mehr gesehen und behandelt. Etwas anders sieht das der Chefarzt Prof. Dr. med. Schönfeldt-Lecuona von der Tagesklinik für Psychosomatische Medizin, Psychiatrie und Psychotherapie in Ulm. Menschen seien heute mehr Belastungen ausgesetzt. Er führt dies auf soziale, familiäre und berufliche Veränderungen und zunehmenden Stress zurück. Zuwachs sieht er bei Depressionen, Suchterkrankungen und Persönlichkeitsstörungen. Bei Kindern und Jugendlichen sieht er Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätssyndrom, Suchterkrankungen, Essstörungen und Störungen des Sozialverhaltens. Er äussert allerdings auch, dass die Frage offen bleibe, auf was die Zunahme zurückzuführen sei – entweder auf effektiv mehr Betroffene oder darauf,  dass sich Betroffene mehr Hilfe holen. Die Zahl der IV-Rentner*innen zwischen 18 und 24 Jahren steigt laut dem SRF-Beitrag in der Schweiz seit dem Jahr 2016 stark an. Mehr als 7000 junge Erwachsene beziehen derzeit eine IV-Rente. Bei mehr als der Hälfte aller IV-Renten sind psychische Krankheiten die Ursache. Aufgrund der steigenden Zahl der jungen Rentner*innen mit psychischen Krankheiten wurde 2014 eine Studie in Auftrag gegeben, an der auch Niklas Baer beteiligt war. Darin wurde erforscht, an welcher Art von psychischer Krankheit die Betroffenen leiden, in welchem Alter die Erkrankung eintrat und in welchen familiären Verhältnissen sie aufgewachsen sind. 45 Prozent der Beteiligten hatten schon im Vorschulalter psychische Probleme. Rund 40 Prozent bringen erhebliche Belastungen aus der familiären Biografie mit. Mehr als die Hälfte leidet unter Verhaltens- und Entwicklungsstörungen, 23 Prozent haben Schizophrenie und 24 Prozent weisen eine Persönlichkeitsstörung vor. Alle diese Krankheiten lassen sich selten in drei Jahren wegtherapieren. Im Gegenteil, sie sind oft chronisch.

Eigene Betroffenheit

Ich schreibe diesen Artikel auch aus der Perspektive einer Betroffenen. An dieser Stelle finde ich deshalb wichtig zu benennen, dass meine persönliche Erfahrung nicht auf andere Betroffene zutreffen muss. Ich bin 21 Jahre alt und habe vor etwa zwei Jahren aufgrund von psychischen Erkrankungen eine hundertprozentige IV-Rente gesprochen bekommen. Der Weg dahin war lange. Im Vergleich zu vielen anderen IV-Bezüger*innen war es ein Zuckerschlecken. Die meisten Betroffenen kämpfen Jahre um eine Rente. Ich würde gerne eine Ausbildung machen. Es ist bedrückend nichts nachgehen zu können, während alle um mich herum  ihre Ausbildungen abschliessen oder studieren gehen. Nur leider ist der erste Arbeitsmarkt nicht genug inklusiv, sodass ich eine Chance hätte, etwas zu meinen Herausforderungen Passendes zu finden. Es gibt zwar Nischenangebote, nur diese sind nicht so leicht zu finden und zu bekommen. Auch im zweiten Arbeitsmarkt ist es schwierig, eine Ausbildung zu finden, welche auf meine Leistungsmöglichkeiten angepasst ist, denn auch dort sind die Anforderungen an die Arbeitsfähigkeit nahe an denen des ersten Arbeitsmarktes ausgelegt.

Der stete Druck der IV wirkte sich immer wieder negativ auf meine Gesundheit aus. Die schnelle Prozenterhöhung führte bei mir zu verstärkter Müdigkeit sowie zu immer öfter vorkommenden Krampfanfällen. Ich musste Aufbautrainings der IV mehrere Male abbrechen, da sogar der geschützte Betrieb, in dem ich tätig war, mit meinen Symptomen überfordert war. Darauf folgte schlussendlich eine IV-Rente, die eine enorme Erleichterung darstellte und auch eine   Verbesserung für meine Gesundheit brachte. Ich konnte mich nur auf die Therapie und meine Psyche fokussieren. In diversen Klinikaufenthalten zeigte sich diese Notwendigkeit auch. Seit etwa einem halben Jahr bin ich nun stabiler und fühle mich bereit, kleine Schritte in Richtung Arbeit und Ausbildung zu machen.

Die Invalidenversicherung und das Sparen

Die Invalidenversicherung (IV) ist ein wichtiges Glied des Schweizer Sozialversicherungsnetzes. Sie versorgt diejenigen, denen es aus gesundheitlichen Gründen, z.B. Krankheit oder auch Behinderungen, nicht möglich ist, zu arbeiten oder die auf Hilfsmittel angewiesen sind. Die Versicherung wird hauptsächlich durch Lohnbeiträge von Arbeitnehmenden und Arbeitgebenden sowie durch Beiträge der öffentlichen Hand finanziert. Jede*r bezahlt und hat im Falle von Krankheit auch Anspruch auf Unterstützung. Im Jahr 2024 hat die IV für rund 461 000 Personen Leistungen erbracht. Darunter fallen Renten sowie Kosten für Eingliederungsmassnahmen oder Hilfsmittel. Die Invalidenversicherung versucht seit Jahren zu sparen. Mit Folgen für Betroffene. Anstatt dass also der erhöhte Bedarf im Fokus steht, wird nach Lösungen gesucht, um Geld zu sparen. Die IV-Stellen-Konferenz (IVSK) schlägt vor, zukünftig keine IV-Renten mehr an unter 30-Jährige zu vergeben. Auch Niklas Baer unterstützt dieses Vorhaben. Die Alternative zur Rente könnte laut IVSK wie folgt aussehen: Betroffene sollten anstatt einer IV-Rente eine sogenannte Integrationsentschädigung bekommen – Eine tiefere, finanzielle Entschädigung, welche an die Bedingung geknüpft wäre, sich an Integrationsmassnahmen zu beteiligen. Dies übt aus meiner Sicht viel Druck auf jungen IV-Bezüger*innen aus. Doch gerade Druck ist in einem Genesungsprozess kontraproduktiv. Das Vorankommen in einer Therapie oder Behandlung könnte durch zusätzlichen Stress verlangsamt oder verhindert werden. Eine andere Idee der IV-Stelle sind befristete Renten. Laut Thomas Pfiffner, Vizepräsident der IV-Stellen-Konferenz, läge es vor allem am «Mindset» , wenn eine junge psychisch Kranke Person für längere Zeit eine Rente beziehe. Wer eine unbefristete Rente habe, würde seine Lebenssituation danach richten und ginge davon aus, die Unterstützung längerfristig zu bekommen, äussert er. Hingegen sei es eine andere Ausgangslage, wenn jemand wisse, drei Jahre Zeit zu bekommen, um gesund zu werden und danach wieder selbst sein Geld verdienen zu müssen. Doch auch dem widersprechen meine Erfahrungen. Krankheitsschübe sind oft unberechenbar und schwer vorhersehbar. Von einem auf den anderen Tag kann sich die Situation erheblich verändern. Zu wissen, ich hätte nur eine gewisse Zeit, um «gesund» zu werden, könnte allein schon reichen, um eine depressive Episode auszulösen.

Verkennung der Realität Betroffener

Baer äussert im Beitrag vom SRF  , dass ein Grossteil der jungen IV-Rentner*innen eigentlich arbeiten gehen könnten. Eine Diagnose zu haben, bedeute nicht zwingend, dass man nicht mehr arbeiten könne, viele bräuchten nur einen «wertschätzenden Push», meint Baer. Er äussert weiter, dass jungen Menschen mehr zugetraut werden müsse und die «Medikalisierung» von Alltagsproblemen ein Problem darstelle. Baer’s Aussage verharmlost psychische Erkrankungen und verkennt die Herausforderungen, die Depressionen, Angststörungen, PTBS und anderen Erkrankungen mit sich bringen. Schwere psychische Krankheiten wie z.B. Persönlichkeitsstörungen, Traumafolgestörungen oder auch Depressionen und Angststörungen können und dürfen nicht mit Alltagsproblemen gleichgesetzt werden. Dazu kommt, dass diese Haltung gegenüber psychisch und physisch Kranken diskriminierend ist. Gesundheit und Genesung können nicht in klare zeitliche Raster gepresst werden. Sparprogramme sollten nicht auf dem Rücken derer abgewälzt werden, die Hilfe brauchen. Die Situation offenbart, unter welchem wirtschaftlichen Druck der Schweizer Sozialstaat steht.

Das Aufbautraining der IV und die Berufsanforderungen

Ich hatte mich als 18-Jährige mit Persönlichkeitsstörung und immer wieder kehrenden Depressionen bei der IV angemeldet. Die erste Massnahme der IV war ein Aufbautraining. Ich sollte mich Schritt für Schritt zu den hundert Prozent hinaufarbeiten, um anschliessend eine Berufslehre beginnen zu können. Die IV finanziert laut Broschüre ein Aufbautraining für 6 Monate, in Einzelfällen kann das bis zu 12 Monaten verlängert werden. Das Ziel der IV besteht darin, junge Menschen so schnell wie möglich in eine Ausbildung zu schicken, damit sie auch möglichst bald wieder finanziell unabhängig von der IV sind. Im Vordergrund steht     nicht das Wohl oder die Gesundheit der Versicherten, sondern möglichst geringe Kosten. Ich hatte das Glück, ein Jahr Zeit zu haben. Doch egal, ob ein halbes oder ein ganzes Jahr; es ist eine geringe Zeitspanne, in der man auf eine Arbeitsfähigkeit von 100 Prozent kommen soll. Falls man nach 6–12-monatigem Aufbautraining nicht in der Lage ist, 100 % zu arbeiten, gibt es nur noch wenige Möglichkeiten. Einerseits gibt es die Option, eine Berufslehre an einem geschützten Arbeitsort zu machen. Allerdings wird auch da oft eine hochprozentige Arbeitsfähigkeit verlangt. Seit 2023 gibt es ein Pilotprojekt an der Berufsfachschule gibb im Kanton Bern. Menschen, die kein Pensum von 100 Prozent leisten können, haben die Möglichkeit, eine EBA-Lehre von 60 bis 70 Prozent in drei Jahren zu absolvieren und dabei in der gibb in die Berufsschule zu gehen. Ein  Betrieb, der das mitmacht, muss allerdings zuerst gefunden werden. Das Unternehmen Workmed, in welchem Niklas Baer der fachliche Leiter ist, brachte kürzlich eine Studie heraus, welche zeigt, dass 61 Prozent derjenigen, die eine Berufslehre absolvieren, angaben, dass ihre psychische Gesundheit während der Lehre leide. Fast zwei Drittel der Befragten gaben an, dass die Lehre Auslöser für eine psychische Erkrankung oder verantwortlich für eine Verschlechterung bereits bestehender psychischer Erkrankung war. Rund 50 Prozent  der Befragten der Studie haben schon einmal darüber nachgedacht, die Lehre abzubrechen. Angesichts dieser Ergebnisse, sowie der Untersuchung der IV zu den Gründen des IV-Bezuges stellt sich die Frage, wieso Baer psychische Erkrankungen junger Menschen bagatellisiert und das Kürzungsprogramm bei der IV-Rente für unter 30-Jährige befürwortet. Zudem kommt die Frage auf, ob es nicht grundsätzlich ein Umdenken in Bezug auf die Berufslehre und die erforderte Arbeitsfähigkeit bräuchte.

Niederschwellige Ausbildungen fehlen

Egal ob erster oder zweiter Arbeitsmarkt, es bräuchte mehr Vielfalt bei den Ausbildungsmöglichkeiten. Wie auch die betroffene Person Juno im Beitrag von SRF sagt, das aktuelle IV-System sei zu wenig individuell und zu stark auf praktische Berufe ausgerichtet. Die Pflicht einer hundertprozentigen Arbeitsfähigkeit in einer Ausbildung sehe ich als problematisch und veraltet an. Mit niederschwelligen Angeboten bezogen auf das Arbeitspensum könnte jungen Menschen Druck und auch psychischer Stress abgenommen werden. Gleichzeitig würde dies auch psychisch Kranken den Einstieg in den Arbeitsmarkt ermöglichen und erleichtern. Sparmassnahmen dürfen nicht auf Kosten der IV-Bezüger*innen passieren. Die Verantwortung, dass Hilfesuchende entlastet werden, liegt bei der IV. Dafür ist sie da.