Eine grosse, weisse Wand inmitten der Natur. Die Formen von diversen Gegenständen, eingekleistert in die Wand, sind darauf zu sehen. Hauptsächlich Spielzeug. Ein Totenkopf, eine Puppe, etliche Rosen, ein Stuhl und viele Farbdosen. Vor dieser Leinwand steht eine Frau mit einem Gewehr in der Hand. Hinter ihr ein kleines, schüchternes Publikum auf Stühlen, das gespannt auf ihr nächstes Tun wartet. Die Frau zielt auf die weisse Wand und drückt ab. Es knallt, die Leute springen vor Schreck auf; aus dem getroffenen Farbbeutel spritzt die rote Farbe.
Das ist eine Szene aus Niki de Saint Phalle’s künstlerischem Leben. Eine Frau voller Zorn und Fantasie, voller Ideen und hinterfragendem Gedankengut. Ihre Welt bestand aus einem weiblichen Grössenwahn. Sie war besessen von Kurven. Sie wollte der Welt mit ihrer runden Kunst beweisen, dass auch Frauen grosse Träume haben können. Niki bezeichnete sich nicht als Künstlerin, sondern als Traumrealisiererin.
Ich liebe das Runde, die Kurven, die Wellen. Die Welt ist rund, die Welt ist eine Brust. Ich mag keine rechten Winkel, sie machen mir Angst. Der rechte Winkel will mich töten. Der rechte Winkel ist ein Mörder. Der rechte Winkel ist die Hölle. Ich mag keine Symmetrie. Ich mag das Unvollkommene. Meine Kreise sind nie ganz rund, das ist meine Wahl. Die Perfektion ist kalt. Das Unvollkommene lebt. Ich liebe das Leben.
Niki definierte sich schon seit ihrem zwölften Lebensjahr als Feministin. Sie wuchs in einem reichen, privilegierten Elternhaus auf und rebellierte auf jede erdenkliche Art gegen den dort zur Schau getragenen Lebensstil. In der Schule schrieb sie sich selbst Liebesbriefe oder malte die Geschlechtsteile der Steinskulpturen rot an und schockierte so ihr Umfeld.
Schiessaktionen im Garten
Mit 18 heiratete sie heimlich einen amerikanischen Dichter und riss von Zuhause aus. Mehrere Jahre später litt Niki unter «psychischer Belastung» und «Nervenzusammenbrüchen». Die Malerei half ihr dabei, all dies zu verarbeiten. Andere, offiziell anerkannte Maler*innen, hielten jedoch nicht viel von ihren Werken und sagten ihr, sie solle doch besser noch eine Schule besuchen, da sie nicht malen könne. Doch solche Kommentare nahm sie nicht ernst und machte weiter wie bisher. Sie sagte: «Meine Schule sind die Kathedralen, die Bilder aus dem 14. Jahrhundert, die ich in Italien sah.» Sie setzte sich das grosse Ziel, einen einzigartigen Garten zu errichten. Ihr Vorbild war unter anderem «Der ideale Palast des Briefträgers»: Ein Gartenpalast voll mit kleinen Türmen und Figuren. Sie wusste genau, dass sie eines Tages auch so etwas erschaffen würde. Doch sie wusste auch, dass sie, bevor das geschehen kann, noch viel zu lernen hat. So verliess sie ihren Ehemann und widmete sich ganz der Arbeit.
Ein paar Jahre später lernte sie den Bildhauer Jean Tinguely kennen und zog zu ihm nach Paris. Bei ihm konnte sie neu anfangen. In Paris hatte sie genug Platz und Freiheit, um sich auszutoben. Das Liebespaar lebte in ziemlich armen Verhältnissen. Zwar wohnten sie in einer Art Schuppen, der nicht einmal ein Badezimmer hatte – und Geld besassen sie auch nicht viel – jedoch war draussen ein riesiger Garten inmitten von Paris. Niki konnte dort schiessen, malen, experimentieren und niemand störte sich daran.
Mit ihren Schiessaktionen zog sie viele Leute an. Wahrscheinlich war es die Tatsache, dass sie Schönheit und Gewalt miteinander verbinden konnte und etwas Neues, Aufregendes daraus entspringen liess. Wochenlang bereitete sie sich darauf vor und übermalte die Leinwand mehrere Male mit weisser Farbe. Es musste alles perfekt sein. Während des Schiessens war sie in Trance versunken, die ihr wieder Kraft gab. Sie war überzeugt davon, dass dies die einzige Zeit war, in der sie nie krank wurde.
Für Niki hatten diese Bilder nur im Moment der Schiessaktion einen Wert. Auf Auktionen oder Ausstellungen kamen zwar immer noch Leute zu ihr und schwärmten über die farbigen Schlachtfelder, doch für Niki waren die Bilder zu diesem Zeitpunkt schon tot, ihr Leben wurde ihnen ausgehaucht.
Geburt der Nanas
Niki begann, Skulpturen zu formen. Sie wollte etwas Tastbares, etwas Grösseres erschaffen. Innen waren sie aus Draht geformt; aussen waren sie lebendig und verspielt bemalt. Bald wurden die «Nanas» geboren. So wurden die grossen Geschöpfe genannt, die das Bild einer unabhängigen Frau, die am besten ohne Mann zurechtkommt, verkörpern sollten. Niki wollte, dass das männliche Geschlecht neben den Nanas klein aussieht. Sie wollte damit dasjenige unterdrücken, womit die Gesellschaft die Frauen unterdrückte.
1966 entstand «Hon – en katedral», die Riesennana, in die man hineingehen konnte. Ihr Name bedeutet auf schwedisch so viel wie «Sie – Eine Kathedrale». Hon war gewissermassen eine Vergötterung der Frau. Sie hatte schon fast etwas Spirituelles an sich. Sie lag auf ihrem Rücken und spreizte die Beine. Durch ihre Vagina konnte man in ihr Inneres gehen. Dort befand sich unter anderem ein Kino, in der Brust eine Milchbar, in ihrem Bein war eine Liebesnische zu finden und im Bauch befand sich eine mechanische Gebärmutter.
Das war auch ein ironischer Kommentar von Niki zum Idealbild der Frau. Die Menschen freuten sich über Hon. Besonders die Kinder. Sie war bunt wie ein Osterei und war etwas Spezielles. Die Nanas hatten bald grossen Erfolg. Es gab Ausstellungen. Zur etwa gleichen Zeit begannen die Frauenbewegungen. Die Nanas wurden zum Symbol dafür. Viele Aufträge kamen auf Niki zu. Sie sollte Bühnenbilder gestalten und sogar ein bewohnbares Gebäude bauen. So formte sie sich den Weg in die Welt der Architektur. Auf dem ganzen Planeten verteilten sich langsam ihre Werke. Bald entstand ein grosser Garten, so wie Niki ihn sich schon lange gewünscht hatte. Sie realisierte den Traum ihres Lebens. Bei diesem Projekt wurde sie durch die Menschen, die sie liebte, unterstützt. Sie unterstützten sie finanziell und halfen ihr auch beim Bauen und Ausarbeiten des Gartens. Sie nannte ihn den «Tarot Garten».
Niki arbeitet bis an ihr Lebensende an verschiedenen Projekten. Von Mosaiken bis zu Kinderspielplätzen machte sie alles. Meistens kombinierte sie auch mehrere Dinge miteinander. Es existieren über 3500 Werke von Niki de Saint Phalle. Sie verarbeitete ihre Wut, ihre Angst, ihr gesamtes Dasein in der Kunst. Sie sagte, ohne ihre Kunst wäre sie sicherlich in der «Irrenanstalt» gelandet, sie hätte in der modernen Welt nicht überlebt. Die ganze Energie, die sie in ihre Arbeit steckte, war das, was sie rettete. Sie konnte aus ihrer Wut etwas Positives erschaffen.