Meral Kureyshi Text: daf | Bild: daf

«Politischer als die ganze Reitschule»

Metaphern, die aus Sprichwörtern wachsen und drei Monate teilnehmende Beobachtung im Museum. Wie entstehen Geschichten und Figuren? Wie prägt uns die eigene Sprache? Und wie schleicht sich die Politik ein? Unser Autor hat mit der Schriftstellerin Meral Kureyshi gesprochen.

Die Dunkelheit verschluckt die Konturen der Eisen­bahnbrücke, Regen wechselt sich im Zweikampf der Niederschläge brav mit dem Schneefall ab. Es ist abends kurz vor sieben. Meral Kureyshi taucht fünf Minuten zu früh vor der Reitschule auf. «Das passiert mir sonst nie.». Wir öffnen das grosse Tor, laufen am Sous le Pont vorbei und dann die Treppe hinauf in den Frauenraum. An der Tür klebt noch ein Zettel vom Oktober: «Eingang der Frauendisco* auf der anderen Seite.» Wo sonst Menschen tanzen, stehen jetzt ein knappes Dutzend Sofas. Der Raum ist hell ausgeleuchtet.

m*: Dein Buch «Fünf Jahreszeiten», das 2020 erschie­nen ist, fängt den Zeitgeist ein und erzählt ihn mit Figuren, die in Bern zuhause sind. Das Gefühl, sich in einem Schwebezustand zu befinden und nicht zu wis­sen, wie man sich entscheiden soll und wo man steht, hat sich für mich durch das Buch hindurchgezogen und All das wird durch die Perspektive der Ich-Er­zählerin transportiert. Dabei arbeitest du in keinem deiner beiden bisher erschienenen Bücher mit einem klassischen Plot, keine Held*innenreisen oder grosse Wandlungen der Figuren. Die Anfangsszene deines neuen Buches beschreibt die alljährliche Szene an der Weihnachtsparty im Theater Tojo. Wie ist dieser Anfang entstanden?

Meral: Ich war oft an Weihnachten im Tojo und mag diesen Raum, die roten Sitze, die hohen Wände. Es gibt so viel zu beobachten. Betrunken habe ich mich auf einen roten Sitz zurückgezogen und aufgeschrieben, was ich beobachten konnte. Die Leute in der Menge, wie sie sich miteinander unterhalten, sich begegnen, tanzen und auch was sie mir er­zählen. Ich liebe diese Perspektive. Wenn ich das Beobachtete erzähle, entstehen plötzlich Geschichten. Ich versuche all diese Eindrücke zusammenzupacken. Sie zu kochen, sie zu verdichten und so etwas Neues entstehen zu lassen.

m*: Die Ich-Erzählerin in «Fünf Jahreszeiten» hat mich während der Lektüre oft genervt. Sie kann sich nie entscheiden und verharrt in diesem oben be­schriebenen Schwebezustand. Wie hast du diese Figur entwickelt?

Meral: Sie hat mich interessiert – ich kenne viele Menschen, die ähnlich sind wie sie. Die Ich-Erzählerin ist wohl das Ge­genteil von mir. Mich interessiert das, was ich nicht bin. Das ist wie in einer Liebesbeziehung. Du suchst dir auch nicht jemanden, der ist wie du. Ich muss mich in meine Figuren verlieben, sie müssen mich faszinieren. Ich kann mich nicht in mich selbst verlieben. In «Fünf Jahreszeiten» arbeitet die Ich-Erzählerin in einem Museum. Schon immer habe ich mich mehr für die Aufseherinnen in Museen interessiert, als für die dort ausgestellte Kunst. Um dieses Gefühl, dieses Aushalten und die Stille selbst nachzuempfinden, habe ich für drei Monate im Kunstmuseum gearbeitet – habe viel be­obachtet und aufgeschrieben.

m*: In deinem Buch verwendest du eine sehr feine, bildhafte Sprache mit vielen Metaphern. Was haben die verschiedenen Sprachen, die du sprichst, für einen Einfluss auf deine Schreibe?

Meral: Das ist eine spannende Frage. Hochdeutsch ist meine professionelle und intellektuelle Sprache. Berndeutsch spre­che ich mit meinen Freund*innen. Wenn ich an einem an­deren Ort bin, passe ich mich schnell an und beobachte, dass ich anfange, in der neuen Sprache zu denken. Für das Träu­men brauche ich mehr Zeit. Da ich in einer Sprache schreibe, die nicht meine Muttersprache ist, ist es ein distanzierteres Verhältnis. Die Angst, nicht verstanden zu werden, begleitet mich und führt dazu, dass ich mir mehr Zeit nehme. Diese Distanz zur Sprache ist wichtig für meine Arbeit.

m*: In deinen Büchern finden sich viele poetische Sätze wie: «Ich war klein, aber gross genug, um nicht mehr klein sein zu müssen» oder «Tausend Kriege hatte er erlebt, da war ein Löwe nichts dagegen», wo du den Kampf deines Grossvaters mit einem fiktiven Löwen beschreibst. Oder: «Es war einmal, oder kein­mal.» Wie entstehen solche Sätze?

Meral: Diese Sätze entstehen beim Schreiben. «Es war einmal; es war keinmal», so beginnen türkische Märchen. Dieser Satz relativiert sich selbst, es hätte sein können, aber auch nicht. Sicher spielt auch meine Mehrsprachigkeit eine wich­tige Rolle bei der Entwicklung meiner Sprache. Wenn ich Sprichwörter übersetze und diese weiterdenke, entstehen neue Bilder. Ich schreibe gerne Gedichte und liebe die Lyrik, somit hat auch die Dichtung Einfluss auf meine Sätze.

m*: Ich lese deine Geschichten als sehr politisch. Sie tragen Erfahrungen ins Bewusstsein, die für viele Menschen weit weg sind. Hast du ein politisches Mo­tiv mit deinen Büchern?

Meral: Ich hatte kein Interesse, ein politisches Buch zu schreiben. Aber es ist total politisch geworden. «Elefanten im Garten» erzählt die Geschichte einer Familie, die in die Schweiz reist und das ist vielleicht politischer als die ganze Reitschule. Ich wurde auch gefragt, wieso in meinem neuen Buch so wenig Frauenfiguren eine Rolle spielen und wie­so so viele Männer. Aber um das geht es mir gar nicht. Es muss nicht um jeden Preis politisch korrekt sein. Ich möch­te erzählen und du kannst darin deine Politik finden oder nicht. Aber klar bin ich politisch, feministisch, ehrlich be­sorgt oder was da noch so alles reinpasst. Das ist für mich eine Selbstverständlichkeit. Für viele Menschen ist es leider keine Selbstverständlichkeit. Ich versuche, mich in meiner Literatur zurückzunehmen. Als Politikerin würde ich wohl durchdrehen und wäre nach zwei Tagen im Gefängnis.

m*: Was macht dich wütend?

Meral: Mich macht vieles wütend. Zum Beispiel, dass sich die Menschen nicht interessieren für die Schicksale ande­rer Menschen. Ich wurde nach der Lektüre meines ersten Buches betroffen angesprochen: «Oh, das wusste ich nicht, dass es so schwierig ist. Als Ausländerin in der Schweiz, das ist so schlimm?» Aber ich will kein Mitleid, ich Ich frage mich dann immer: «Interessierst du dich eigentlich nicht für Poli­tik?! Du lebst hier.» Wieso dürfen Ausländer*innen, die seit 30 Jahren in der Schweiz leben, nicht wählen? Wieso kostet ein Schweizer Pass 7000 Franken? Es gibt so viele Dinge, die keinen Sinn ergeben, wenn man fünf Minuten darüber nachdenken würde. Siehst du – jetzt fange ich schon an. Es ist besser, dass ich Literatur mache.

m*: Mir ist aufgefallen, dass du als «migrantische» Schriftstellerin vorgestellt wirst. Schweizer Schrift­stellerinnen werden einfach als Schriftstellerin vorge­stellt. Wie ist dies für dich?

Meral: Ich verstehe das Interesse, aber gleichzeitig nervt es mich auch. Leute fragen mich, ob ich meine Bücher auf Tür­kisch geschrieben habe und dann übersetzen liess. Wenn ich an einer Lesung Hochdeutsch spreche, sind sie ganz über­rascht, dass ich diese Sprache so gut kann. «Ah, du kannst so gut Deutsch, wow.» Sie sind fasziniert, dass ich die Sprache kann, aber das ist doch normal. Wenn du als zehnjähriges Kind in dieses Land gekommen wärst, Germanistik und lite­rarisches Schreiben studiert hättest, könntest du die Sprache sicher auch. Viele solcher Fragen sind total rassistisch.

m*: «Elefanten im Garten» wurde als Migrationsro­man rezipiert. Dein neues Buch sei ein Liebesroman und du wirst als post-migrantische Autorin mit türkisch-kosovarischen Wurzeln vorgestellt. Selbst verwendest du wenig Bezeichnungen für deine Figu­ren. Wie ist dein Umgang mit Labels?

Meral: Ich ignoriere sie einfach. Ich finde Schubladisierun­gen wirklich schrecklich. Sie werden den Menschen nicht gerecht. Ein Mensch ist so vielseitig und vielschichtig, dass es eine Beleidigung ist, ihn zu schubladisieren. All diese Bezeichnungen, die Journalist*innen für mich verwenden, belustigen mich. Weil sich in meinem Buch zwei verlieben, bin ich doch keine Liebesexpertin. Oder wenn ich über eine Einbürgerung schreibe, sagt dies auch nichts über meine Ex­pertise bei Migrationsfragen aus.

m*: Wie war als Kind deine eigene Migrations-erfahrung?

Meral: In der Schweiz war es schlimm für meine Eltern, plötz­lich war man keine Dolmetscherin mehr und kein Ingeni­eur, sondern Putzmann und Putzfrau. Es spielte keine Rolle, was du früher gemacht hast. Mit dreissig neu anfangen und alles, was du zuvor erreicht hast, ist nichts mehr wert. Es gibt Leute, die sagen: «Die sollen doch froh sein, hier sein zu können.» Nein, das waren wir nicht. Ich wäre viel lieber bei meinen Freund*innen, bei meiner Familie, den Verwandten und dem Haus geblieben. Migration ist nicht freiwillig, das geht oft vergessen. Meine Eltern hatten einen pragmatischen Umgang mit unserer Situation, obwohl die Umstände sehr schwierig waren. Sie haben uns beigebracht, dass das alles eine Chance ist, eine Bereicherung. Sie lehrten uns, dass es cool sei, eine neue Sprache kennenzulernen, neue Leute, eine neue Kultur. Das eröffnete uns viel Neues. Wir haben eine neue Welt dazugewonnen, statt dass uns etwas weggenom­men wurde. Ich bin sehr dankbar für diese Perspektive.

m*: Ist es als Frau schwieriger, sich in der Literatur, welche von alten weissen Männern geprägt ist, zu behaupten?

Meral: Ich werde oft auf mein Äusseres reduziert. Mir wer­den an Interviews oft Fragen über mein Äusseres gestellt. Ein Interviewpartner fragte mich ernsthaft, ob ich meinen Mantel nicht ablegen möchte und fügte hinzu, ob ich denn nichts darunter anhätte? Was sind das für Fragen? Solche Dinge passieren mir fast immer und ich frage dann zurück, ob er das auch beim letzten Gast, der ein Mann war, gemacht habe. Früher habe ich mich für öffentliche Veranstaltungen immer extra unauffällig gekleidet, ungeschminkt, Rollkra­genpullover und Jeans, weil ich nicht über mich, sondern meine Arbeit sprechen wollte. Heute ziehe ich mich so an, wie ich Lust habe, draufgeschissen, rote Lippen, Rock. Ich kann so aussehen und mich anziehen, wie ich will und trotz­dem gute Arbeit leisten. Ein anderes Beispiel: Ein Journalist fragte mich nach Fotos für einen Artikel und ich verwies auf den Limmatverlag, wo meine Pressefotos zu finden sind. Er schrieb mir eine Email zurück und fragte, ob ich nicht «glustigere» Fotos hätte. Wieso erlaubst du dir das? Bei mir dieses Wort zu benützen? Das ist so jenseits. Warum sollte ich «glustig» sein? Nur weil ich eine Frau bin. Ich thematisiere diese Vorfälle dann immer in den Interviews, aber das wird nie veröffentlicht.