Das megafon ist als kleines Kollektiv immer mal wieder mit Stress konfrontiert. Da ist die monatliche Ausgabe, die gefüllt werden muss, da sind die wöchentlichen Sitzungen, der Redaktionsschluss und das Layoutwochenende, die Abgabetermine, die selten eingehalten und doch immer wieder vereinbart werden. Vielleicht ist es dieser Stress, der unsere Arbeit eigentlich strukturiert.
Dass gemeinsam vereinbarte Zeit dazu führt, dass man eben produktiver arbeitet, ist ein prägender Gedanke unserer Gesellschaft. Die Kulturwissenschaftlerin Elizabeth Freeman, die dieses Jahr verstorben ist, verwendete für diese allgemeingültige Einteilung von Zeit den Begriff der Chrononormativität (chrono= Zeit/zeitlich). Den Ursprung zeitlicher Normen sieht sie in der Einführung der Schichtarbeit während der Industrialisierung. Durch die Schichtarbeit in den Fabriken wurde die Arbeit zeitlich getaktet; die Arbeiter*innen orientierten sich nicht mehr an den Zyklen der Natur, sondern an der Fabrikglocke, die besagte, wann die Arbeit beginnen und wann sie enden sollte. Die Einteilung der Zeit diente also dazu, eine grosse Anzahl Menschen so zu organisieren, dass sie mehr produzieren konnten. Die neue Zeittaktung, welche die Fabrikbesitzer vorgaben, prägte den Alltag der Arbeiter*innen und schränkte diese in ihrer Selbstbestimmung massiv ein. Chrononormativität verweist also auch auf den Zusammenhang von Zeit und Macht, der sich darin zeigt, wer zeitliche Einheiten festlegt und von diesen profitiert und wer den zeitlichen Normen unterworfen wird.
Freeman bezeichnet mit Chrononormativität aber nicht nur die zeitliche Einteilung von Arbeit. Sie meint damit ganz grundsätzlich, dass unser Leben von zeitlichen Normen geprägt ist: Kindheit, Jugend, Erwachsensein und Altsein sind normierte Lebensabschnitte, an denen wir uns allesamt ausrichten. Das beginnt mit der Schule und geht weiter mit der Vorstellung, in welchem Alter wir einen schulischen Abschluss erreichen, eine Ausbildung absolviert haben, einen Beruf ausüben, eine*n feste*n Partner*in finden, Kinder haben, wann wir uns von Partys fernhalten sollten, wann wir Rente beziehen. Diese Zeitnormen sind institutionell verankert in Schulen und Universitäten (ab 30 Jahren sind die Kosten für ein Studium beträchtlich höher), in der AHV und den Pensionskassen.
Nicht alle können und wollen diesen zeitlichen Normen gleichermassen gerecht werden. Menschen, die mehr Zeit für eine Ausbildung benötigen oder keine absolvieren können, Menschen die keinen festen Beruf ausüben, die nicht den*die eine*n Partner*in fürs Leben haben, die keine Kinder kriegen, entsprechen diesen zeitlichen Normen nicht.
Und genau das ist Freemans springender Punkt, sie selbst hat den Begriff Chrononormativität in Bezug auf Queerness entwickelt; denn queer sein bedeutet, so Freeman, die zeitlichen Normen zu unterlaufen, etwa wenn es darum geht, in einem bestimmten Alter eine feste Beziehung einzugehen, und dann eine Familie zu gründen. Und darin sieht Freeman ein Potential des Widerstandes. Indem man zeitlichen Normen widerstrebt und eigene zeitliche Einheiten lebt. Nicht ohne Grund nennt Freeman diese anders gelebte Zeit «Queer Time». Sie spielt mit dem Begriff sowohl darauf an, dass queere Menschen der Chrononormativität weniger entsprechen und dass es andererseits eine anders gelebte Zeit gibt, ausserhalb der Normen.
Einen Versuch, auf eine «Queer Time» hinzuarbeiten, sieht Freeman im Schreiben. Vielleicht kann er auch im Lesen verortet werden. Dann ist dieser Text ein solcher Versuch. Er darf also ruhig zweimal gelesen werden, oder schnell oder langsam, vielleicht besser langsam.