Unweit des Bahnhofs liegt ein Komplex, der von einer vergangenen Zeit zeugt: Tausende Quadratmeter Leerstand, stillgelegt nach der schleichenden Auflösung der schweizerischen Schwerindustrie. Am Rand des Areals hält ein Kollektiv die ehemalige Mitarbeitenden-Kantine am Leben. Autonom sorgt das Kollektiv für Kunst, Kultur, Bildung, Selbstversorgung, Politik und mehr. Die Cantine ist nicht bloss ein Konzertlokal. Sie bietet ihren Nutzer*innen reichlich Raum, sich völlig unkommerziell zu entfalten: ob in der Druckerei, im Fotolabor, Bandraum, Garten, Hühnerstall, in ihren Ateliers, Werkstätten oder der Küche. In- und ausserhalb der Wänden der Cantine, wurde repariert, isoliert, gebaut – damit ein lebenswerter und ökologischer Freiraum allen zur Verfügung steht.
Zu viele Manager*innen verderben den Brei
Leider schwebt dem bunten Kollektiv seit Beginn der Verhandlungen 2016 eine dunkle Zukunft vor. Dann unterzeichnete das Kollektiv den ersten Mietvertrag mit vonRoll, der Eigentümerin* der Liegenschaft: 35 Jahre Nutzungsdauer, ein Glücksfall für ein derartiges Projekt – das hat einen Preis, über 3000 Franken im Monat. Das Kollektiv beschliesst, die finanzielle Last zu stemmen, der Vertrag steht. Für den Konzern unterzeichnet hat ihn Rolf Schmid, Geschäftsleiter der vR Verwaltungen. Was aber das Kollektiv herausfinden wird: Ab diesem Zeitpunkt wird der Ärger seinen Lauf nehmen. Wenige Monate später pfeift die vR den Manager zurück. Der Vertrag soll aufgelöst werden, denn Schmid sei angeblich nicht zeichnungsberechtigt gewesen, so der Konzern. vR scheint sich so zu verhalten, als wenn die Verantwortlichen sich der Art und Existenz des Projekts nicht bewusst gewesen seien. Dem Kollektiv wird ausserdem ein mangelhafter Unterhalt und die Verzögerung von vereinbarten Umbauten vorgeworfen. Pikante Anekdote: Während den ersten Verhandlungen soll Schmid gesagt haben, er hoffe hier nicht auf eine zweite Reitschule.
Anfang 2017 ist die Cantine bereit, vor der Justiz zu beweisen, dass vR ihren Pflichten nicht nachkommt und den Umbau selbst blockiert hat. Die Eigentümerin* hätte zudem bei der Stadt Delémont dafür sorgen müssen, dass die neue Nutzung der Cantine korrekt deklariert wird. Das zumindest steht im Vertrag und wäre notwendig, damit das Kollektiv öffentliche Veranstaltungen durchführen kann.
Kurz später schaltet sich der Konzernchef der vonRoll infratec (holding), Jürg Brand, persönlich ein. Ein neuer, nur 10 Jahre langer, aber ungleich günstigerer Vertrag wird vorgelegt. Die vR tut alles, um zu verhindern, dass der Fall vor Gericht kommt. Mit der Unterzeichnung der neuen Vereinbarung wird versprochen, in Zukunft einen konstruktiven Dialog aufrecht zu erhalten.
Brand wird nie wieder auf die Anfragen des Kollektivs eingehen. Das Spiel beginnt von vorne. Ironischerweise wird der angeblich dazu nicht berechtigte, ursprüngliche Unterzeichnende, Rolf Schmid, weitere Drohungen und Schreiben signieren. Dem Kollektiv werden zahlreiche neue und haltlose Vorwürfe gemacht. Die Strategie der vR ist klar: Jedes Mittel ist Recht, die Nutzer*innen loszuwerden. Längst ist die Gemeinnützigkeit der Cantine vom Kanton Jura anerkannt. Auch die städtischen Behörden verhalten sich gegenüber den Freund*innen der Cantine freundlich. Bei Sympathien bleibt es, denn die Behörden von Delémont wagen es nicht, das Kollektiv im Kampf gegen den Infrastruktur-Koloss tatkräftig zu unterstützen. Seit vR den Mietvertrag 2018 aufgrund der genannten Vorwürfe kündigte, nutzt der Konzern seine Position als Grosskonzern, um vor Gericht die Glaubhaftigkeit ihrer Vorwürfe damit zu begründen – und schaffte es so mit Erfolg, die Auflösung bis heute aufrecht zu erhalten. Mit derselben Arroganz versuchte vR erfolglos die vom Cantine-Kollektiv eingelegte Berufung für ungültig erklären zu lassen.
Die Gentrifizierung macht sich schleichend breit
Die Cantine soll weg, das Gebäude zurück in die Kontrolle der Manager*innen. Wofür sie die Liegenschaft nutzen will, lässt vR nicht durchblicken. Warum die Stadt auch bei offensichtlichen Verstössen der vR gegen Auflagen nicht eingreift, ist ebenfalls unklar. Einzelne Kollektiv-Mitglieder beobachten, dass die Gentrifizierung in Delémont noch nicht offensichtlich angekommen sei. Dass heisse nicht, es gibt sie nicht. «Bei einzelnen Projekten wurden Anwohner*innen mit der Aussicht auf Mitwirkung bei der Umsetzung zu Treffen eingeladen. Mit solchen Aussagen wird gerne gespielt.» Mitbestimmung gäbe es nicht wirklich und Gentrifizierungsprojekte würden an der Bevölkerung vorbeigeplant. Ob hinter der Causa Cantine ähnliche Interessensbindungen existieren, bleibt heute schwer zu überprüfen.
Pensionskassen von Grosskonzernen hätten längst erkannt, dass sich aus der Vereins- und Kollektivwelt ebenfalls Kapital schlagen lasse, das sähe Mensch in anderen Städten bereits, so eine Stimme aus der Cantine. Ein Kollektiv könne aus Sicht der Eigentümer*innen fast umsonst eine Liegenschaft renovieren. Genau das sei hier auch der Fall. «Vielleicht hatte die vR nicht von Anfang an den Plan, uns dann wieder loszuwerden. Als dann ihre Jurist*innen aufmarschierten und die Karte des Grosskonzern spielten, definitiv schon.» Trotz den düsteren Aussichten zeigt sich das Kollektiv bestärkt, das Projekt weiter voranzutreiben. Aus ihrer Sicht seien Projekte wie dieses die einzige Möglichkeit, nachhaltig, selbstversorgend und unkommerziell, ein Zusammenleben zu organisieren. Es gelte, damit das Diktat der Wirtschaft zu durchbrechen, das heute bis tief in unser Sozialleben vorgedrungen sei. Dieses Bedürfnis werde bei vielen Menschen immer stärker. Sichtbarkeit bekommt dies in den Augen des Kollektivs bei der Anzahl und Diversität der Menschen, die sich zu den Freund*innen der Cantine zählen: Von den knapp 100 verbliebenen vR-Lohnarbeitenden auf dem Areal seien es einige. In Kulturkreisen – auch weit ausserhalb des alternativen Milieus – habe es viel Unterstützung und über die Jahre auch Kollaborationen gegeben. Viele Politiker*innen und Aktivist*innen hätten die Cantine sowohl mit Vorstössen, wie auf der Strasse bestärkt. Gekommen sind sie bisher nicht nur aus Delémont, sondern von nah und fern. Die Freund*innen der Cantine hoffen: Genauso am 5. September.