Am Freitag dem Dreizehnten begann das alles irgendwie ernst zu werden. Corona, vorher ein dankbarer Nährboden für schlechte Witze – besonders die mit der Biermarke: nicht mehr lustig seit Woche zwei –, veranlasst, dass unsere Schulen geschlossen bleiben. Und klar wurde auch: Wir stehen am Rande des Kollapses unseres Gesundheitssystems. Kollektive Überforderung.
Nach dem stillen, konzentrierten, auch fassungslosen Schauen der BR-Pressekonferenz im brachial eingerichteten Büro meines Arbeitsplatzes mache ich ein paar Schritte auf der Mittelstrasse, ab ins Migros, überfüllt, aber Ausnahmezustand? Gruppen junger Menschen sitzen auf der Mauer vor dem Sattler und trinken Feldschlösschen 33cl. Überall Menschen. Überall Normalität. Social Distancing? Auf jeden Fall anders.
Auch eine Woche später – der Frühling ist angekommen wie der unpassend ausgelassen-betrunkene Onkel an der Trauerfeier – sind die Strassen voll, die Länggasse in gewohnter Frühlingsmanier, viele haben frei, viele möchten jetzt noch mal raus, jetzt, bevor das dann eventuell nicht mehr möglich ist. Und ich erwische mich dabei, sie zu verurteilen. «Hey ihr Menschen, das ist unsolidarisch, was ihr da treibt.» Denn coucou: jetzt ist curve-flattening angesagt. Das funktioniert logischerweise nicht, wenn draussen alle miteinander rumhampeln. Was ist denn los?
Und dann schäme ich mich bitzli dafür, blind anzuprangern, im Glauben darum, dass ich die epidemiologische Weisheit mit Löffeln gefressen habe. Es ist nicht zielführend, einzelne Menschen zu verurteilen, weil sie sich nicht in ihren vier Wänden isolieren – dann ist man fast so, wie die paar Nasen, die jetzt fremde alte Menschen auf der Strasse ansprechen und nach Hause schicken, die spielende Kinder auf Fussballplätzen anmotzen. Deshalb Fokus auf die Frage: Wieso handeln Menschen hier nicht solidarisch?
«Solidarithé» steht an der Fassade des Länggasstee-Ladens. «Solidarität» schreit der monothematische Blätterwald. «Solidarität» auch ein ewiges Thema im Abwägen des eigenen Handelns. Was darf ich machen? Inwieweit sind meine persönlichen Bedürfnisse nach Kontakt, nach Bewegung und Auslauf legitim? Inwiefern sind sie verhältnismässig in Bezug auf das Wohl von Menschen, die zur vulnerablen Gruppe gehören. Inwiefern sind sie verhältnismässig in Bezug auf das Funktionieren unseres Gesundheitssystems und unserer Gesellschaft. Das sind Abwägungen, die wahnsinnig abstrakt sind und die zuvor selten in einem vergleichbaren Rahmen nötig waren.
Zu abstrakt? Mit Ähnlichem hat auch die Klimabewegung zu kämpfen. Wie kann erreicht werden, dass die abstrakte Verbindung zwischen dem eigenen Handeln heute und der Zerstörung unserer Zukunft morgen in den Köpfen der Menschen hergestellt wird? Klimasolidarität? Eher nicht – zu weit auseinander sind Handeln und Konsequenzen. In der Coronakrise scheint das nicht zu klappen, für die Klimakrise ist das schon länger (Daniel-Koch-Voice) «dramatisch». Darin, eben, ein möglicher Erklärungsansatz für die Unfähigkeit, sich selbst für alle einzuschränken.
Ein anderer möglicher Grund – hobbysoziologisch und westentaschenpsychologisch versteht sich – könnte darin liegen, dass sich unsere Gesellschaft zuvor ewig nicht ungezwungen solidarisch verhalten musste. Klar, wir zahlen alle unsere Batzeli in die AHV und ALV ein. Klar, wir zahlen Steuern, je weniger desto besser. Und wehe dem*der, der*die diese Gelder falsch verwendet. Von uns erwartet wird individualisiertes Sein, das Einstehen für unsere persönlichen Ziele, eine Abgrenzung von anderen und derer Ideen. Solidarität, «das unbedingte Zusammenhalten miteinander aufgrund gleicher Anschauungen und gleicher Ziele», wie soll denn das bitte so plötzlich funktionieren? Jetzt, wo jahrzehntelang darauf hingearbeitet wurde, dass wir unsere Differenzen als distinktive Merkmale verwenden anstelle unserer Parallelen als zusammenschweissende?
Natürlich habe ich auch mitbekommen, dass es Menschen gibt, die für vulnerable Personen einkaufen, mit Hunden Gassi gehen und Kinder betreuen. Das ist schön zu sehen. Auch Klatschkonzerte auf Balkonen – liebenswerte Gesten. Trotzdem ist das, was wir brauchen, nicht nur ein momentaner Ausbruch von Gemeinsamkeitsgefühlen und Hilfsbereitschaft in einer Krise. Und auch im Wissen darum, dass das jetzt ein klassischer Appell-Schluss wird: Bitte, ihr, gopf: Lasst uns in und auch nach der Krise als Gemeinschaft denken. Lasst uns wirklich solidarisch sein mit Menschen, mit kommenden Generationen. Lasst die Konsequenzen näher an unser Handeln herankommen. Und dieses Gefühl nicht in unserer Nachbarschaft enden lassen, come on, zwischen der Länggasse und Lesbos liegt das Meer.