Die Zeitungen sind voll mit epidemiologischen Grafiken, Einschätzungen aus dem Gesundheitswesen, volkswirtschaftlichen Analysen, Homestories aus dem Homeoffice. Dazu habe ich wenig beizutragen. Und die Themen, die mir sonst am Herz liegen, kommen mir plötzlich so unbedeutend vor. Wer interessiert sich denn jetzt noch ernsthaft für die komplexen Verstrickungen in der staatlichen Digitalüberwachung? Selber mag ich mich auch kaum aufraffen, darüber seriös und vertieft nachzudenken und zu recherchieren.
Eine Reportage kannst du sowieso vergessen. Zu den Leuten nach Hause darfst du zwar – noch ist der Polizeistaat nicht ganz eingeläutet – aber die Türen bleiben wohl verschlossen. In einem Café zum Interview, zu, weil verboten. Natürlich kann man so was auch per Videotelefonie machen. Aber irgendetwas ist anders. Die Leute sind mit dem Kopf woanders.
Das Resultat ist ganz simpel: Mir fehlt die Arbeit. Nicht, weil ich von zuhause aus arbeiten muss; das mache ich ohnehin fast immer. Sondern, weil es schlicht und einfach für viele jetzt andere Prioritäten gibt, als sich mit Journalist*innen zu befassen. Livemusik, Theater, Lesungen, Comedy – aber auch Coiffeur, Raumpflege, Therapie – kannst du auch alles nicht machen. Ich habe mir überlegt, ob ich einen Puzzle-Livestream anbieten soll. Das interessiert die Leute jetzt doch fast mehr.
Selbständige wie mich trifft es im Moment besonders hart: Gemäss einer Umfrage von syndicom unter 1200 Selbständigen und Freischaffenden hatten bereits 89% wegen der aktuellen Pandemie Auftragsabsagen. Bei jeder vierten Person handelt es sich um Lohnausfälle von fast einem durchschnittlichen Monatseinkommen. Nur die Hälfte können ein oder maximal zwei Monate so weitermachen. Danach ist das Konto leer. So schreibt man Existenzunsicherheit.
Kein Wunder verlangt die Situation «besondere und dringende Massnahmen, um diese Gruppe von Erwerbstätigen vor der Zahlungsunfähigkeit, Prekarität und Verarmung zu schützen», schreibt syndicom gestern am 19. März. Derweil hat man die zahlreichen Selbständigen beim Bund noch nicht wirklich auf dem Radar. Die verschiedenen Hilfspakete, die jetzt geschnürt werden – als ob es sich dabei um wohlwollende Weihnachtsgeschenke handelte – übergehen Freischaffende konsequent. Und das betrifft nicht einfach ein paar Journis und Schauspieler*innen: Jede achte erwerbstätige Person in der Schweiz ist selbständig.
Und diese Menschen stehen oft ohnehin bereits nahe am existentiellen Abgrund. Denn selbständig sein heisst auch, nur sehr schwach durch Sozialversicherungen abgesichert zu sein. Wegen fragiler Arbeitsverhältnisse sind auch kaum finanzielle Polster da, die einen durch schwierige Zeiten tragen könnten. Und über die ganzen Scheinselbständigen in der Gig Economy liesse sich noch einiges mehr schreiben. In der Pandemie tritt die Prekarität bestehender Arbeitsverhältnisse akzentuiert hervor.
Ich bin privilegiert. Ich bin Schweizer. Ich habe Freunde und Familie, die mir in der Not helfen können. Eine gute Ausbildung und ein Arbeitsnetzwerk, auf das ich zurückgreifen kann. Und ich habe einen Nebenjob, mit dem ich einen Teil meiner laufenden Lebenskosten decken kann. So kann ich nachts noch ruhig schlafen. Unbeschwert im Wald rennen gehen, Puzzles kaufen und zuhause zusammensetzen. Meine Zeit und Arbeit unentgeltlich fürs m* einsetzen. Warten, wie sich die Situation entwickelt.
Viele andere können das nicht mehr. Sie müssen rationieren, Rappen spalten, Kosten reduzieren und verzweifelt Aufträge an Land ziehen. Die aktuelle Krise ist keine «Chance», wie das manche formulieren. Sie ist eine verdammte Herausforderung. Wir müssen daraus Lehren ziehen. Wir brauchen nicht nur jetzt Solidarität mit prekär Beschäftigten und überlasteten Spitalangestellten. Sondern auch in Zukunft und systematisch: Mit einem Umdenken über unsere Arbeitsbedingungen und die spätkapitalistischen Strukturen.
Kein Weihnachten für dich
In mir herrscht Leere. Über was soll ich denn jetzt noch schreiben?