Es ist der 10. April 2022; die erste Runde der Präsidentschaftswahl in Frankreich. Der amtierende Präsident Emmanuel Macron und die Rechtsextreme Marine Le Pen werden in die Stichwahl vom 24. April 2022 einziehen. Hinter ihnen folgt Jean-Luc Mélenchon mit etwa 20%, und mit nur 7% dann der Rechtsextreme Eric Zemmour. Obwohl Zemmour nun doch nicht allzu hoch im Kurs zu sein scheint, hat der rechtsextreme Publizist und Politiker die letzten Monate die französischen Medien mit seinen rassistischen, misogynen und elitären Diskursen polarisiert und geprägt. Auch in Genf hatte Eric Zemmour auf seiner Wahlkampftour einen Auftritt. Eingeladen von der rechten Vereinigung «Convergences» in Genf, gastierte er am 24.11.21 im Hilton Hotel. Dagegen demonstrierten am selben Tag Hunderte. Organisiert wurde die Demo unter anderem von Samuel. Ich habe mich an einem Sonntagmorgen mit Samuel getroffen, der sich an der Demonstration vom 24. November 2021 gemeinsam mit seinem Kollektiv gegen einen Auftritt von Zemmour in Genf gewehrt hat. Wir haben darüber gesprochen, warum er sich gegen Zemmour eingesetzt hat, wie Zemmour die französische Politik so polarisieren kann, und weshalb Zemmour als politische Figur die Rechtsradikalisierung in Frankreich vorantreibt.
Wer seid ihr als Kollektiv und wie organisiert ihr euch politisch?
Samuel: Le Silure ist eine aktivistische Gruppe, wie auch ein Aktivistenlokal, was eine gewisse Besonderheit darstellt. Wir versuchen soziale Gruppen auf einer autonomen Basis zu versammeln und zu organisieren,um ihnen eine Stimme in der Gesellschaft wie auch der Politik zu geben. Wir knüpfen im Großen und Ganzen an die Erfahrungen der Klassenautonomie der Post-68er-Bewegung von Gewerkschaften und Parteien an. Wir versuchen, von unten hinauf zu sprechen, durch Erfahrungsberichte, kleine Interviews und Ähnliches, um Diskurse über den Druck, wie er tatsächlich erlebt wird, an die Basis zu bringen. Wir organisieren daher Aktivitäten zu Sensibilisierung, darunter zum Beispiel Sensibilisierung für Hausbesetzungen, eine offene Küche und eher informative Aktivitäten wie Buchpräsentationen, Vorträge und Filmvorführungen.
Du und dein Kollektiv habt euch an einer Demonstration gegen den Vortrag von Eric Zemmour in Genf im November letzten Jahres beteiligt. Was ist geschehen und habt ihr bei der Organisation dieser Demonstration mitgewirkt?
Samuel: Ja, wir haben diese bewilligte Demonstration zusammen mit den Antifaschist*innen von der AFA (AntiFascist Action) Genf organisiert. Was tatsächlich passierte: Zemmour hatte im November 2021 unter dem Vorwand seines Buches eine Tournee begonnen. Das ist der Zeitpunkt, an dem die Meinungsforschungsinstitute beginnen, Zemmour als Kandidat für die Präsidentschaftswahl am 10. April einzubeziehen. Sein Ziel war es, Geld zu sammeln für einen millionenschweren Wahlkampf. Der Punkt ist, dass Kandidat*innen den Finanzinstituten, die Kredite vergeben, Sicherheiten geben müssen. In Frankreich ist es so, dass die 5%-Hürde bei der Wahl überschritten werden muss, um die Bankkredite zurückbezahlt zu bekommen. Ansonsten gehen die Wahlkampfkosten zu Lasten der politischen Partei.
Aus welchen Gründen habt ihr gegen ihn demonstriert?
Samuel: 2019 ist der Zeitpunkt, bei dem Zemmour die zentrale Figur im Fernsehen wird, während er bisher «nur» Journalist war. Ähnlich wie Macron versucht er eine «Bewegung», die auf seine Person zugeschnitten ist, aufzubauen und die anderen rechten Parteien nach und nach zu vereinnahmen. Zemmour wurde in diesem Moment wirklich gefährlich. Obwohl sein gewalttätiges Gesicht vor allem in Paris² zum Vorschein kam, war Zemmours Gewalt in Genf eher von der Art, wie die Wirtschaftseliten rassistische und neofaschistische Positionierungen unterstützen. Was in Genf geschah, war ein Fundraising-Treffen, schon mit einem recht hohen Eintrittspreis. Und dann konnte man sich vor Ort zusätzlich registrieren lassen, um für seine Wahlkampagne zu spenden. Es ging also um viel Geld und vor allem hatte er in Genf viele Verbündete. Darunter die nicht-agrarische Genfer SVP – Wirtschaftsanwält*innen und Banker*innen –, ein Mitglied der Genfer PLS und auch Leute, wie Roger Köppel. Zemmour hetzt rhetorisch gegen Migration und die Banlieues – mit einem Diskurs, den er selbst aufgebaut hat, der sich aber der alten rechtsextremen Ideologie Frankreichs und dem berüchtigten Renaud Camus bedient. Er war der Ideologe, der die These des Grand Remplacement prägte («Der grosse Austausch», eine sehr wirkmächtige Verschwörungstheorie). Zemmour hat eine ganze Polemik gegen die aus den französischen Banlieues hervorgehenden politischen Figuren aufgebaut, die sich mit Fragen der Polizeigewalt und der Diskriminierung befassen. Er setzt diese Personen mit Dschihadist*innen gleich. Die Gefahr bei Zemmour besteht darin, dass er eine Reihe von Gruppierungen fanatisiert, die nicht bereit sind, auf den Wahlkampfweg zu warten. Es gibt ausgezeichnete Online-Zeitungen wie StreetPress, die durch gründliche journalistische Arbeit gezeigt haben, dass es in Frankreich bewaffnete Gruppierungen von Zemmour-Sympathisant*innen gibt. Eine sehr wichtige Verbindung ist darüber hinaus die Verbindung zu den Polizeigewerkschaften: Zemmours erster öffentlicher Auftritt war, dass er zu den Gewerkschaften ging und sagte, dass die Ordnung wieder hergestellt werden müsse.
Bedeutet das, dass die Polizeigewerkschaften großen Einfluss haben?
Samuel: Enorm. Polizeikorporationen haben in Frankreich immer mehr Aufgaben und Mittel erhalten. Soziale Fragen zu den Banlieues werden ausschließlich als Sicherheitsproblem behandelt. In diesem Zusammenhang haben die Polizeigewerkschaften einen Opferdiskurs entwickelt. Sie würden nicht vom Staat geschützt und man wolle sie töten und angreifen. Das hat mit Macron eine noch schlimmere Wendung genommen. Zemmour kommt dann auf diese Gewerkschaften zu und sagt, dass er die Ordnung wiederherstellen werde.
Welche politischen Entwicklungen nimmst du auf der Ebene ethnozentrischer und rassistischer Ideologien in Frankreuch wahr? Findest du, dass sich das insbesondere an Zemmour festmachen lässt?
Samuel: Es gibt eine lange Dauer der Rassismus- wie auch Laizismusfrage in Frankreich. Zum Beispiel gab es mehrfach auch klassisch-konservative Regierungen, die sich in ihren Reden gegen Migrant*innen wandten. Die französischen Autoritäten sehen die Vorstädte als ständige Bedrohung und wollen die Bewegungen, die von dort kommen, zerschlagen. Daher werden Vorstadtbewohner*innen oft als Dschihadist*innen beschimpft, ebenso wie Linke, die als «islamo-gauchistes» (« Islamo-Linke ») bezeichnet werden. Heute sind wir nicht mehr in einer Situation, in der es nur faschistische Gruppierungen sind, die diese Art von Diskurs führen, sondern es gibt eine Verbreitung dieser Diskurse in der Elite wie auch in der Masse. Die französische Politik erlebt eine Form der Dekadenz, wobei an Ideologien von Sicherheit und Kontrolle angeknüpft wird, um den Staat zu verwalten.
Was ist deiner Meinung nach der beste Weg, um die extreme Rechte zu bekämpfen?
Samuel: Meines Erachtens muss dies durch viele Diskussionen, konkrete Mobilisierungen und die Wahrnehmung als allgemeines und nicht als spezialisiertes Problem geschehen. Zum Beispiel die frauenfeindliche und antifeministische Dimension bei Zemmour ist ein Angriff auf mehrere gesellschaftliche Sektionen gleichzeitig. Es geht also darum, deutlich zu machen, dass es sich nicht nur um einen sektoralen Kampf handelt, sondern um einen Kampf, der den Spannungsbogen der progressiven Kämpfe umfasst, und um deutlich zu machen, dass letztlich jede*r Antifaschist*in sein kann.
1 Name wurde geändert.
2 vgl. Strassenburg, R. (Paris, 2021). «Die Stunde des Untergangs». In WOZ, Nr. 50, 16.12.21, International S.9.