Zwischen 12 Uhr und 13 Uhr durfte ich lange keine Freundinnen anrufen, weil man während der Mittagszeit nicht stören soll. Mein Nachbar kärcherte dafür jeden Sonntag seine Einfahrt, weil sich das so gehörte. Wenn wir Kieselsteine auf die Strasse schmissen, beschwerte er sich bei unseren Eltern. Das machte so keine Gattung. Sowieso gab es so viele Regeln: Keine nackten Füsse in Monaten, in denen ein «R» vorkommt, kein spontanes beieinander Übernachten, wenn man nicht eine Woche im Voraus gefragt hat, einfach aus Prinzip.
Die Allgegenwart der Bünzlis war schon als Kind ermüdend und heute machen mich Bünzlis vor allem wütend. Eine Freundin von mir wurde einmal beim Containern verhaftet, weil ein Anwohner sie durch sein Fenster beim Aus-dem-Container-klettern beobachtet hatte und unverzüglich die Polizei rief. Mich hat eine regelwütige Frau auch schon am Gepäckträger festgehalten, weil ich mit dem Fahrrad durch ein Fahrverbot gefahren bin. Ich stelle mir vor: Wie die Bünzlis vor dem Fenster hocken und warten, bis jemand eine Regel bricht, damit sie reklamieren, ja damit sie sich ganz ausführlich empören können, über alle, die sich nicht so vorbildlich an alles halten, was irgendwie mit Gesetzen und einer niederträchtigen Vorstellung von Anstand zu tun hat. Die rechte Hand um den Feldstecher geschlossen, den Zeigfinger auf der Kurzwahl der Polizeirufnummer.
Denke ich an Bünzlis, kommt mir aber auch bald mal die SRF Serie «Experiment Schneuwly» in den Sinn, die von 2014 bis 2019 produziert wurde. Wie Matto Kämpf und Anne Hodler auf einem biederen Sofa hocken; sie mit Dauerwelle, er mit Pullunder. In der Serie ziehen die beiden Figuren über ihre Nachbar*innen her und staunen über Dinge, die sie wegen der eigenen Engstirnigkeit und Kleingeistigkeit für übertrieben halten. Die Serie wurde von den meisten Schweizer Medien gehypt, nur 20 Minuten befand «Experiment Schneuwly» als daneben, ja verletzend gegenüber den «einfachen» Leuten auf dem Land, die von der Serie quasi vorgeführt würden. Und vielleicht hat 20 Minuten ja sogar einen Punkt, denn von wem sprechen wir eigentlich, wenn wir von Bünzlis sprechen?
Bünzlis sind für mich nicht nur engstirnige Miesepeter*innen, sondern vor allem auch Menschen mit schlechten Geschmack. Bünzlis haben Gartenzwerge, viereckige Hecken und «Welcome» Fussmatten. Sie tragen Karohemd und Dauerwelle und ganz sicher sind sie Anhimmler*innen der traurigen Tiere und Clowns, die Rolf Knie auf Teller und Leinwände malt.
Was Experiment Schneuwly für mich so sehr ausmacht, ist deshalb vor allem die Bildsprache. Ich muss nur einen kurzen Blick auf die bemalten Fingernägel und den glänzend-rosa Lippenstift von Frau Schneuwly werfen, um zu wissen, um welche Menschen es in dieser Serie geht. Die bünzlige Engstirnigkeit wird mit dem Geschmack gleich vorausgesetzt. Und mit dem Outfit kommt auch schnell die Ahnung, dass hier keine zwei Menschen von Welt portraitiert werden.
Laut dem Soziologen Bourdieu hat Geschmack vor allem etwas mit der eigenen Position innerhalb einer Gesellschaft zu tun; Geschmack manifestiert soziale Klasse. Was einem gefällt und was nicht, ist so gesehen weniger individuelle Vorliebe als vielmehr Ausdruck der eigenen Klassenzugehörigkeit. Zum Beispiel ist es relativ unwahrscheinlich, dass Menschen aus einem inneren Geschmacksempfinden heraus Rucksäcke und Taschen mögen, die aus alten farbigen Plachen hergestellt wurden. Und genauso wenig ist es eine individuelle Eingebung, einen Gartenzwerg in den eigenen Rasen zu stellen.
Wenn wir also über Bünzlis sprechen, uns über sie empören, schwingt vielleicht auch schnell einmal eine Überheblichkeit mit. Dann versichern wir uns, dass wir keine Bünzlis, keine geschmacklosen Kleingeister sind. Das Urteilen über Bünzlis ist dann auch ein Ausdruck der eigenen Stellung innerhalb einer gesellschaftlichen Hierarchie, die den Bünzlis ganz klar überlegen ist.