Volksabstimmung Text: rex | Bild: rex

Eine nachhaltige Zukunft ist möglich—aber nicht mit diesem Stromgesetz

Am 09. Juni stimmt die Schweiz über das Bundesgesetz über eine sichere Stromversorgung mit erneuerbaren Energien ab. Die Vorlage wird von allen links-grünen Parteien und sämtlichen Umweltverbänden unterstützt und auch ich meinte, ich würde der Vorlage zustimmen. Das ist die Geschichte, wie ein einfaches Ja zu einem komplizierten Nein wurde.

Es geht nicht darum, eine Staumauer gebaut zu haben, sondern eine am Bauen zu sein». So erklärt sich der isländische Autor und Filmemacher Andri Snær Magnason den beharrlichen Drang, mit dem Ingenieur*innen in den 2000er Jahren auf den Bau neuer Staudämme in Island pochten. Sie planten, praktisch jeden natürlichen Flussverlauf der Insel zuzumauern und die Staudämme an Aluminium-Konzerne zu verkaufen. Hektaren unberührte Landschaft wären geflutet worden, und durch die Einengung wirtschaftlicher Aktivitäten hätte ausserdem die isländische Wirtschaft gelitten. Nur mühsam gelang es den Umweltverbänden und der Zivilbevölkerung, das Projekt abwenden, entgegen der engstirnigen und mächtigen Lobby der Ingenieur*innen. Magnason erklärt: «Sie wollten nicht einfach ‘eine Staumauer gebaut haben’. Sondern sie mussten ‘eine am Bauen sein’.» (1)

An diesem Punkt sind wir auch in der Schweiz angelangt. 95 Prozent aller natürlichen Flussverläufe in der Schweiz sind mit Wasserkraftwerken verbaut. Ob wir den rechtlichen Schutz der verbleibenden fünf Prozent auch noch aushebeln wollen, darüber stimmen wir am 09. Juni 2024 ab.

Rabiate Gesetzgebung

Die Schweiz ist geprägt von einzigartigen Landschaften. Insbesondere in den Alpen sind natürliche Lebensräume zu finden, wie sonst nirgendwo auf der Welt. Ihr Schutz gewährleistet der Bund: Artikel 78 der Bundesverfassung fordert den Schutz der Tier- und Pflanzenvielfalt und die Erhaltung ihrer Lebensräume. Konkret regelt das Natur- und Heimatschutzgesetz (NHG) und in Verbindung stehende Verordnungen die konkrete Umsetzung dieses Verfassungsauftrags. Das Ziel: Die ungeschmälerte Erhaltung der wertvollsten Lebensräume und Landschaften der Schweiz.

Um diesem Auftrag nachzukommen wurden in den 1990er-Jahren Biotopinventare für die ganze Schweiz erstellt. Ich treffe mich mit Mary Leibundgut, die damals insbesondere mit dem Inventarisieren der Gletschervorfeldern beschäftigt war. Sie erklärt, wie im Zuge des Klimawandels sich die Gletscher seit etwa 1850 zurückziehen und im Gletschervorfeld ausserordentlich vielfältiges Neuland hinterlassen. Der Geologe Tobias Ibele beschreibt es treffend: «Dieses neue Land ist wild, unfertig und voller Dynamik. Aber wie alles Neugeborene auch verletzlich».

Nirgendwo sonst findet man eine so hohe Dichte an verschiedenen Lebensräumen, erklärt Leibundgut: Sandboden, rauschende Bäche und kleine Rinnsale, Moosteppiche, inmitten eines wilden Getümmels an Felsbrocken, die der Gletscher über Jahrtausende von höheren Lagen ins Gletschervorfeld transportiert hat. Jedes Jahr sieht der Flusslauf anders aus; jedes Jahr keimt zwischen dem Gestein neues Leben auf.

Das Problem: Seit der letzten Biotopen-Bewertung im Jahr 1998 haben sich die Gletscher weiter zurückgezogen. Gletschervorfelder verändern sich in relativ kurzer Zeit sehr stark. Sie müssten also dringend neu bewertet werden, um deren Bedeutsamkeit zu erkennen und das fragile Ökosystem vor der voreiligen Flutung durch Stromkonzerne zu schützen. Die florierende Landschaft droht wortwörtlich im Keim erstickt zu werden.

Dieses Schicksal droht beispielsweise dem Gletschervorfeld des Unteraargletschers, der Wiege der Aare. In den letzten Jahrzehnten hat sich zwischen dem Gletscher, der sich immer weiter zurückzieht, und dem Grimsel-Stausee eine weite Ebene mit Flussläufen, Tümpeln, dicken Moosteppichen und einer vielfältigen Vegetation entwickelt. Auf eigene Faust unternahm Leibundgut eine Neubewertung. Ihr Gutachten bringt zum Ausdruck, dass dieses Neuland von ausserordentlichem Wert ist, ins Aueninventar aufgenommen werden sollte und ungeschmälerten Schutz verdient. Zu dieser Erkenntnis kam sie auch für das angrenzende Triftgebiet, welches ebenfalls von den Kraftwerken Oberhasli – die Betreiber*innen der Grimselkraftwerke – für den Bau einer neuen Staumauer ins Visier genommen wurde.

Nun drängen die Stromkonzerne, Bundesrat Albert Rösti (und ehemaliger Präsident des Schweizerischen Wasserkraftverbands) und wider Verständnis auch sämtliche Umweltverbände und linksgrüne Parteien, die Staumauer des Grimselsees zu erhöhen: Dieses Projekt, sowie gleich fünfzehn weitere mit ähnlich verheerendem Ausmass sind fest verankert im Stromgesetz (Stromversorgungsgesetz StromVG Anhang 2, gestützt auf Art. 9a, Abs. 2: Zuhinterst im Abstimmungsbüchlein). Das Gletschervorfeld am Oberaargletscher wäre damit unwiederbringlich zerstört; genauso dasjenige der Trift. Dort ist ausserdem ein massiver Ausbau der Infrastruktur nötig, um überhaupt an die geplante Baustelle zu gelangen. Das Vorhaben würde das bisher nur von Wanderwegen und einer kleinen Gondel erfasste Tal unverkennbar verändern.

Das Stromgesetz geht aber weiter. Es sieht auch vor, die dringlichen Neubewertungen der Gletschervorfelder zu verunmöglichen:

↳ Abstimmungstext, Energiegesetz EnG Art. 12. Abs. 2bis: Prinzipiell dürfen neue Anlagen zur Nutzung erneuerbarer Energien nicht auf Biotopen von nationaler Bedeutung gebaut werden.

Das gilt aber explizit nicht (lit. a) «für Auengebiete, bei denen es sich um Gletschervorfelder oder alpine Schwemmebenen handelt, die der Bundesrat nach dem 1. Januar 2023 […] in das Bundesinventar der Auengebiete von nationaler Bedeutung aufgenommen hat».

Weiter unten ist ausserdem zu lesen (lit. c), dass der Bau neuer Anlagen nicht ausgeschlossen ist, «in Fällen, in denen lediglich die Restwasserstrecke im Schutzobjekt zu liegen kommt».

Wird einem Fliessgewässer Wasser entnommen, beispielsweise um es via Bergstollen in ein benachbartes Tal mit einem Wasserkraftwerk zu speisen, spricht man für den Abschnitt des Gewässers unterhalb der Entnahmestelle von Restwasserstrecke. Dass dort noch genügend Wasser fliesst um die vielfältigen Funktionen von Fliessgewässern auch unter der Entnahmestelle zu gewährleisten, ist wichtig. Dieser Absatz kommt also harmlos daher, hat aber gravierende Auswirkungen: Auenobjekte von nationaler Bedeutung bleiben zwar vordergründig geschützt. Aber durch die fehlende Dynamik aufgrund der geringen Restwassermenge besteht die Gefahr, dass sie als wichtige Ökosysteme stark an Wert verlieren werden. Kommt dazu, dass schon jetzt sehr viele Schutzobjekte betroffen sind: Leibundgut zeigt mir eine Karte vom Kanton Graubünden, wo die Restwasserstrecken zu sehen sind, zusammen mit den geschützten Auengebieten: Fast jedes geschützte Auen-Fliessgewässer liegt in einer Restwasserstrecke.

↳ Zu guter Letzt befreit das Stromgesetz die Stromkonzerne auch von der Pflicht, «Schutz-, Wiederherstellungs-, Ersatz oder Ausgleichsmassnahmen» zu erbringen (Art 12. Abs. 3 bis). Die Zerstörung der einzigartigen Berglandschaften soll den Stromkonzernen also auch ja nichts kosten.

«Es ist skandalös», hält Mary Leibundgut fest. Anstatt dem Gesetzesauftrag, die Natur und Landschaft zu schützen, Folge zu leisten, bestrebt unser Parlament leichtfertig jegliche Hürden für den Bau neuer Kraftwerke abschaffen. Hinzu kommt, dass das Bundesamt für Umwelt (BAFU), welches das NHG-Gesetz umsetzen müsste, die sich verändernden und neu entstehenden Gletschervorfelder nicht neu inventarisiert. Die Rechnung geht auf: Wenn niemand den Wert der Landschaft erfassen kann, besteht auch keine Datengrundlage für eine ausgewogene Interessensabwägung. So steht nichts im Weg für die Expansion alpiner Energieprojekte, selbst wenn dafür schützenswerte Lebensräume zerstört werden müssen.

Auch Umweltrechts-Professor Alain Griffel äussert sich mit starken Worten zu den verschiedenen parlamentarischen Vorstössen, gegen die im Herbst 2023 ein Referendum ergriffen wurde. Das wirre Gesetzesgefüge entspreche nichts geringerem als einer «Demontage des Umweltrechts» schreibt er in einem Gutachten (2). Mit «gesetzgeberischen Rambo-Methoden» gelinge die Energiewende sicher nicht. Wie Griffel bringt auch der Gründer der Stiftung Landschaftsschutz Schweiz, Hans Weiss, seine Besorgnis zum Ausdruck: Das neue Gesetz ordnet die Interessen der Stromversorgung über denjenigen des Natur- und Landschaftsschutzes ein, die laut Bundesverfassung gleich zu bewerten wären (3). So kommen beide Experten zum Schluss: Das Stromgesetz ist verfassungswidrig.

Ein Null-Summenspiel zwischen Biodiversität und Klima

Betroffen erzählt mir Leibundgut von einem frustrierenden Podiumsgespräch mit den jungen Grünen im Graubünden. Unter dem Vorwand der Klimakrise, hatte niemand ein Ohr für den Stellenwert des Naturschutzes. Die Priorität der links-grünen Politik liegt klar beim Ausstieg aus den fossilen Brennstoffen durch den Ausbau der erneuerbaren Energien. Ein Kampagnenbrief, der in meinem Briefkasten landet, proklamiert, «Klimaschutz ist die grösste Herausforderung unserer Zeit». Dass diese engstirnige Haltung uns gleichzeitig in die nächste Krise schlittern lässt, darüber wollen linksgrüne Politiker*innen nicht informieren, oder sie sind es sich schlicht nicht bewusst.

Umweltwissenschaftler*innen gehen nämlich davon aus, dass die Biodiversitätskrise mindestens so verheerend ist wie die Klimakrise und keineswegs isoliert betrachtet werden soll. Kaum ein Lebensraum auf Erden ist nicht durch menschliches Handeln geprägt. Das stellt eine massive Belastung für Tiere, Pflanzen und ihre Lebensräume dar. Im Namen des Fortschritts – und neuerdings unter dem Vorwand einer erneuerbaren Energiezukunft – werden weltweit Naturräume verbaut, versiegelt, durchgraben, gerodet und verseucht: «The Price of Progress», würde man auf Englisch anmerken. Es ist ein hoher Preis. Ein stilles Massensterben ist im Gange, schreibt Elizabeth Kolbert in ihrem 2014 erschienenen Buch «The Sixth Extinction». Am Ende des 21. Jahrhunderts sei es gut möglich, dass zwischen einem Fünftel und der Hälfte aller Arten ausgerottet sein wird. (4)

Die konkrete Gefahr des Artensterbens liegt in ihrem Ausmass. In einem Ökosystem erfüllen mehrere Arten ähnliche Aufgaben. So kann die Natur das Aussterben oder Abwandern einzelner Spezies verkraften und sich verändernden Umweltbedingungen anpassen. Sterben aber zu viele Arten in enger Zeitfolge aus, fällt das Ökosystem in sich zusammen. Weil Ökosystem-Dienstleistungen die Grundlage unserer Versorgungssicherheit bilden (zum Beispiel durch Bestäuber, Bodenbildung, Wasserfiltrierung, Unterbindung extremer Temperaturen und Wetterlagen, Vorbeugung von Erosion und Säuberung der Luft, um nur einige Funktionen intakter Ökosysteme zu nennen), ist das verheerend.

Der Schutz von Biotopen lohnt sich sogar doppelt: Forscher*innen schätzen nämlich, dass gesunde Ökosysteme in der Lage sind, mehr als dreissig Prozent der nötigen CO2 Reduktionen zu stemmen. Aber umgekehrt droht mit deren Vernichtung das natürlich-gelagerte Kohlendioxid frei zu werden und Treibhauseffekt weiter zu befeuern.

Das Mass für die Biodiversität berechnet sich aber nicht nur aus der Artenvielfalt. Auch die genetische Vielfalt innerhalb Populationen ist massgebend, sowie die Fülle an Lebensräumen, die ein Ökosystem anbietet. Durch die Vielfalt an Lebensformen und -räumen sind Ökosysteme robuster gegen Umweltveränderungen. In dieser Hinsicht ist der Erhalt der alpinen Biotope ausserordentlich wichtig: Während im Mittelland über Hektaren Feld nur ein Lebensraum gedeiht, bietet das Gletschervorfeld ein lebhaftes Mosaik an Lebensräumen an.

Bezüglich Emissionsreduktion liegt die Vermutung also nahe, dass das Stromgesetz ein teures und naturzerstörerisches Null-Summenspiel ist. Die Einsparungen an Kohlendioxid-Emissionen werden im Zuge bevorstehender Ökosystem-Kollapse wieder zunichte gemacht. Und später wird die zerstörte Natur mit weitaus teureren Massnahmen wiederhergestellt werden müssen.

Keine gerechte Energiewende

Die Energiewende bedingt die Förderung von Metallen und Mineralien, um Solaranlagen, Windräder, Batterien für Elektrofahrzeuge und Generatoren für Wasserkraftwerke zu bauen und diese ans Stromnetz anschliessen zu können: Kupfer, Lithium, Nickel, Zink, Mangan, Kadmium, Titan, Molybdän, Chrom, Graphit, Silber, Neodymium oder Praseodym. Für dessen Abbau wird Vergiftung und Verwüstung von Regenwäldern (Kupfer in Zentralafrika), gebirgigen Hochebenen (Lithium in den Anden) oder subtropischem Hinterland (Seltene-Erde-Mineralien in China) in Kauf genommen. Lithium zum Beispiel ist ein Grundbaustein in Batterien für Elektroautos, Laptops oder Handys. Es wird auf der Atacama Salzebene in den chilenischen Anden in einem sehr wasserintensiven Verfahren gefördert. Für die lokale Bevölkerung bleibt aber nur wenig Wasser übrig, und noch weniger, das nicht vergiftet ist. Ein weiteres anschauliches Beispiel: Ein boomender Standort für Nickelabbau – Nickel ist auch ein wichtiger Bestandteil moderner Batterien – liegt in Südostasien. Dort führt der rapide Ausbau der Industrie zur Nickelförderung paradoxerweise auch dazu, dass parallel eine fossile Infrastruktur zur Energieversorgung aufgebaut werden muss, um den hohen Strombedarf des Abbaus zu decken.

Leider sind diese Geschichten keine Einzelfälle. Zu praktisch jedem Metall und Mineral, welche unsere fossilen Energieträger ablösen sollen, lassen sich ähnliche Berichte finden. Im Zuge rasant steigender Nachfrage nach diesen Elementen wird in Zukunft weiter auf indigenes Land vorgedrungen, werden Menschenrechte eingeschränkt und der Naturschutz abgeschwächt, damit neue Rohstoffförderungs-Standorte erschlossen werden können. Die Schweiz interessiert das aber nicht: Vor dreieinhalb Jahren schmetterte das Ständemehr die Konzernverantwortungsinitiative nieder, und damit die Möglichkeit, dass sich die Schweiz jetzt für eine menschenwürdige und umweltverträgliche Energiewende einsetzen könnte.

Die ausbeuterischen Verhältnisse gegenüber der Natur und anderen Menschen bleiben bestehen. Nur wird anstatt Kohle, Öl, und Gas jetzt nach Metallen und seltenen Erdmineralien gegraben. Dafür werden Bergtäler zugemauert, Wälder gerodet und Menschen vertrieben oder vergiftet, manchmal sogar ohne, dass dabei überhaupt Kohlendioxid eingespart wird.

Damit entlarvt sich die eigentliche Ursache unserer gleichzeitig zusammenfallenden Krisen. Der globale Norden verkörpert nach wie vor die Haltung, wir könnten alles ausbeuten – Tiere, Menschen, Pflanzen, Gestein, Boden. Das schreibt der Umwelthistoriker und Volkswissenschaftler Jason W. Moore in seinem Buch «Capitalism and the Web of Life» (6). Unsere Denktradition bemüht sich, diese Handlungsform als rational und wissenschaftlich darzustellen, und unser Wirtschaftssystem reproduziert es. So auch in der kolonialen Sichtweise, welches Stromkonzerne ermächtigt, das unberührte Neuland der Gletschervorfelder zur Stromerzeugung zu beanspruchen.

Mary Leibundgut erzählt mir von einer Begegnung mit einem Ingenieur der Kraftwerke Oberhasli: «Da ist ja gar nichts», vermerkte er, wo er die alpine Schwemmebene im Triftgebiet besuchte. Diese Sichtweise macht uns blind für den nicht-vermarktbaren Wert unserer Umwelt. Gleichzeitig verspottet sie jede andere Haltung als naiv oder irrational.

Diese Perspektive verunmöglicht es, den Alpenraum als schützenswerte Landschaft und einzigartigen Lebensraum aufzufassen; stattdessen sieht sie eine tektonisch-erzeugte Technologie zur Stromerzeugung. Um diese anzuzapfen, begeistern sich Stromkonzerne mit dem Gedanken, die Alpen zu einer riesigen Batterie umzufunktionieren.

Die wissenschaftlich-philosophische Grundlage, um Menschen zu versklaven und die Natur auszubeuten, charakterisiert unser Handeln immer noch, schreibt auch die Geografin Kathryn Yusoff (7). Einerseits zeigen die Berichte zum gefährlichen Rohstoffabbau überall auf der Welt, wie der Kapitalismus nach wie vor rassistisch geprägt ist. Andererseits sieht man hierzulande, wie dieselbe ausbeuterische Haltung zur Sicherung von Wirtschaftswachstum gegenüber unproduktiver Natur weiter besteht.

Mit erneuerbaren Energien will man dem Kapitalismus ein grünes Mäntelchen umhängen, damit das Märchen vom grenzenlosen Wachstum überleben kann. Das eigentliche Problem bleibt aber bestehen.

Ausblick aus der Perspektivlosigkeit

Energie erscheint in unserem Alltag als eine Abstraktion. Ihre Grösse und Form entziehen sich unserem Verständnis und mit der Vielzahl an physikalischen Messeinheiten um sie zu beschreiben wird uns auch nicht geholfen. Konkret begegnen wir ihr zum Beispiel als Prozentzahl im Batterieladezustand unserer digitalen Geräte oder in Franken am Ende der Stromrechnung. Die konkrete Materialität von Energie, ihre zerstörerische Infrastruktur, ist weit weg von unserem Alltag. Diese liegt in hochgelegenen Bergtälern in den Alpen oder den Anden; in Reservaten indigener Völker von Kanada bis zum Amazonas; im Schlamm des Kongobeckens oder in den gerodeten Regenwäldern Indonesiens. So konnte sich der kaum hinterfragte Anspruch unserer Gesellschaft durchsetzen, immer – aber wirklich immer – Strom beziehen zu können.

Demgegenüber frage ich mich, wie eine Gesellschaft aussehen würde, die nach der natürlichen Verfügbarkeit von Energie tickt. Einen Prototyp als Beispiel: Die Gruppe Low-Tech Magazine betreibt ihre Website mit einer eigenen Solarzelle und einer Batterie. Schien ein paar Tage lang die Sonne nicht? Dann liegt die Website auch lahm. (8)

Im Einklang mit zunehmend positiven Einschätzungen zu einer verkürzten Arbeitswoche, wäre es doch möglich, dass an Regentagen, wo weniger Solarstrom produziert wird – und viele Menschen sowieso launischer sind und lieber im Bett bleiben würden – einfach nicht gearbeitet wird? Selbstverständlich braucht es dafür eine geordnete Struktur, die politisch zu verhandeln sein wird. Aber wäre das vielleicht eine erstrebenswerte Verschiebung des Diskurses?

Wie sieht eine Energiepolitik aus, die sich an den Gegebenheiten der Natur ausrichtet anstatt umgekehrt? Für viele mag das radikal klingen, doch es liegt auf der Hand, dass endloses Wachstum für uns und unserer Umwelt nicht zu stemmen ist. Ein Fokus auf unsere Energiepolitik ist ein guter erster Schritt, um sich mit der Frage auseinanderzusetzen, wie unsere Welt nach dem Kapitalismus, und ohne Ausbeutung aussehen könnte. Oder – um mit Andri Snær Magnason zu enden – wie wir uns zufriedengeben können, einfach «eine Staumauer gebaut zu haben».

1. Magnason, Andri Snær im Interview mit Emergence Magazine, Dezember 2019: On Time and Water. https://emergencemagazine.org/interview/on-time-and-water/

2. Griffel, Alain. Frontalangriff auf das Umweltrecht: Die «Energiewende» als Vorwand. Recht – Zeitschrift für juristische Weiterbildung und Praxis 23(1). 2023.

3. Weiss, Hans im Interview mit Matthias Mast, Fondation Franz Weber 2024. Wollt ihr das Primat der Stromerzeugung vor dem Schutz der Natur und Landschaft?. https://www.ffw.ch/de/news/wollt-ihr-das-primat-der-stromerzeugung-vor-dem-schutz-der-natur-und-landschaft/

4. Kolbert, Elizabeth. The Sixth Extinction: An Unnatural History. New York: Henry and Holt Company (2014).

5. Eisenbach, Cornelia und Priscilla Imboden. «Rösti’s Beschönigungsbehörde». Republik, 06.05.2024. https://www.republik.ch/2024/05/06/roestis-beschoenigungsbehoerde

6. Moore, Jason W. Capitalism and the Web of Life. London: Verso Books (2014).

7. Yusoff, Kathryn. A Billion Black Anthropocenes or None. Minneapolis: University of Minnesota Press (2018).

8. https://solar.lowtechmagazine.com

 

Liebe Grünen, liebe SP

Wieso zwingt ihr uns, zwischen Naturschutz und Energiewende zu entscheiden? Sind das nicht zwei Seiten derselben Münze? Ich würde jede Vorlage unterstützen, die vorsieht, Solaranlagen auf bestehender Infrastruktur auszubauen. Auch finde ich sämtliche Vorschriften zur Minderung der Energieverschwendung sinnvoll. Aber dass ich gleichzeitig Stromkonzernen ermöglichen muss, sich von der Verantwortung zu befreien, der Natur Sorge zu tragen, lässt einen bitteren Geschmack.

Eure Aufklärung dazu, was für diese Energiewende alles in Kauf genommen wird, ist ungenügend. Ihr beteuert zwar, dass der Einschnitt in die Landschaft geringfügig bleibt, doch ich verstehe nicht wie ihr zu diesem Schluss kommt: Gleich 16 massive Wasserkraftprojekte werden gesetzlich verankert. Alle sind gravierend für die wenigen alpinen Lebensräume, die noch geschützt sind oder es sein sollten. Schaut ihr euch etwa dieselben Unterlagen zur Bedrohung der Biodiversität durch Wasserkraft an, die Rösti zuerst hat beschönigen lassen (5)? Ihr lässt mir nichts anderes übrig, als enttäuscht das Gesetz abzulehnen.

Verbittert lässt Grüssen,

ein besorgter Mitkämpfer

 

Strom und Energie – was ist der Unterschied?

Strom bezeichnet rein elektrische Energie. Spricht man aber von Energie im Allgemeinen, schliesst das auch Wärmeenergie (beispielsweise in einer Gasheizung), oder Diesel als Verbrennungsenergie in Verkehrsmitteln.