Häusliche Gewalt breitet sich weiter aus. Seit Jahren nimmt die offizielle Zahl kontinuierlich zu. Allein im letzten Jahr gab es einen Fünftel mehr versuchte Tötungen – auch die Zahl der Vergewaltigungen stieg an. Damit hat die Pandemie leider die erwarteten Folgen (siehe 455) – auch wenn deren Ausmass anfangs noch relativiert wurde. Die Kriminalstatistik spricht eine deutliche Sprache. Dabei sind die «schockierenden Zahlen» für Terre des femmes Schweiz bloss die «Spitze des Eisbergs». Die Dunkelziffer sei um ein Vielfaches höher.
Wenn Menschen im Homeoffice eng aufeinander leben, wenn Ausweich- und Betreuungsmöglichkeiten fehlen, wenn Unsicherheit, Stress und Angst zunehmen, entsteht ein gewaltiges Konfliktpotenzial, unter dem vor allem Frauen und Kinder leiden. Hier wären niederschwellige Schutzräume und Rückzugsorte ausser Haus besonders wichtig, doch das pandemiebedingte Verbot von Veranstaltungen macht oft einen Strich durch die Rechnung. Das zeigt sich auch am Beispiel des Frauenraums.
«Wir sind nicht nur ein Veranstaltungsort», sagt L. «Wir sind ein politischer Ort, ein Schutzraum», ergänzt K. Beide sind Teil des Frauenraumkollektivs und wollen lieber anonym berichten. Sie vertreten auch nicht die Meinung des Kollektivs, sondern berichten von ihren Erfahrungen aus den Monaten, in denen sich viele Orte mit neuen Fragen, Herausforderungen und Erkenntnissen konfrontiert sahen. Das Veranstaltungsverbot ist dabei nur ein Katalysator für andere und aus ihrer Sicht wichtigere Probleme.
«Der Frauenraum lebt vom direkten Austausch», sagt K. Die Menschen wollten sich miteinander auseinandersetzen und durften sich gleichzeitig in grösstmöglicher Sicherheit fühlen. «Dieser Begegnungsort diente auch als Gefäss für Diskussionen.» Wie bei vielen anderen Gruppen zeigt die Pandemie auch im Frauenraum die Schwierigkeit, solche Diskussionen im digitalen Raum zu pflegen. Gleichzeitig habe das Verbot der Veranstaltungen auch zu einem neuen Fokus geführt. «Es war irgendwie auch ein Moment zum Durchatmen», sagt L. «Es gab keine Nachtarbeit und wir konnten andere Dinge in Angriff nehmen.» Im Rummel der Veranstaltungen fehlte oft die Zeit und Energie, Auseinandersetzungen zu führen, selbstkritisch zu bleiben und sich weiter zu entwickeln.
Nur hatten beide den Eindruck, dass sich trotz dieser Gelegenheit wenig tat. «Es war vor allem ein Problem fehlender Kreativität», meint K. «In der Reitschule herrscht tote Hose», ergänzt L. «Gefühlt kein Mensch will interne Angelegenheiten wirklich angehen, dabei gäbe es endlich mal Zeit und Raum, sich damit auseinanderzusetzen.» Der Frauenraum präsentierte bereits Mitte 2019 ein Positionspapier, wie sich der Ort weiterentwickeln könne und wünschte sich Austausch und Diskussionen. «Aber es geschieht so gut wie nichts», ist K. resigniert.
Veranstaltungen würden hier vielleicht auch helfen, neuen Schwung in die Sache zu bringen – mehr Leben in die Bude. Wichtiger sei aber die Utopie, in der es für Schutzräume wie den Frauenraum weniger Kampf braucht. «Ich will an das Gefühl des feministischen Streiks anknüpfen», sagt L. «Dort konnten sich FLINT+ den Raum nehmen und es wurde mehr als sonst akzeptiert.» Natürlich sei auch der Frauenraum kein vollkommener Schutzraum. Doch gerade, weil sich immer wieder cis Männer ausgeschlossen fühlten, brauche es solche Orte. «Mindestens solange Menschen, die sich als cis Männer verstehen, Wiederstände gegen solche Schutzräume haben und das Gefühl haben, ihnen werde dadurch etwas weggenommen, braucht es eben diese Räume», sagt K.
In der Pandemie zeigen sich für K. und L. die «Missstände der kapitalistischen und patriarchalen cis-heteronormativen Politik und Gesellschaft» in aller Deutlichkeit. Das Prekäre wurde noch prekärer. Viele Individuen im Frauenraum leisten ungewöhnlich viel Carearbeit, die mit Lockdown, Einschränkungen und Unsicherheiten nochmals zunahm. «Emotionsarbeit und das Auffangen psychischer Notsituationen aufgrund von Alltagsdiskriminierung bleibt meiner Erfahrung nach grösstenteils an FLINT+-Personen hängen», sagt K. «Dazu kommt, dass diese Arbeit weder sichtbar noch bezahlt ist.» Ein systematisches Gesellschaftsproblem, das sich auch bei den Menschen im Frauenraum manifestiert. Durch den Umgang mit Demotivation, Frust und Überforderung stellte sich bei K. eine Ermüdung ein. «Es ist unglaublich anstrengend.»
Gerade hier fehlen Orte, an denen sich Menschen geborgen und sicher fühlen. «Vielen Menschen fehlt der Schutzraum, in dem auch ich mich vor den Diskriminierungen des Alltags geschützt fühle», sagt L. «Und auch, um inspiriert zusammenzukommen und politische Arbeit zu machen.» Denn in dieser Situation wäre die politische Selbstreflexion besonders wichtig gewesen. «Exklusivität hat ein neues Ausmass angenommen und unser privilegiertes Verhalten extrem befördert», meint L. Längst nicht alle haben Zugang zu Freiräumen und können ihr Umfeld weiter treffen. Wer in einer gemütlichen WG wohnt, hat Austausch. Komplette Einsamkeit droht jenen, die nur noch zwischen Einzimmerwohnung und Beruf hin- und herpendelten und bald ganz zu Hause im Homeoffice deponiert wurden. Das beschäftigt auch K. «Ich hatte den Eindruck, dass die meisten Menschen, die solidarisch sein möchten, nicht wirklich wissen, wie Solidarität funktioniert.»
Und ist da denn gar keine Hoffnung? L. schweigt lange. «Ich muss ehrlich sein, dass meine Hoffnung schwindet. Manchmal macht es Angst, zu sehen, dass die Selbstkritik und Auseinandersetzung mit den eigenen Privilegien bei vielen Menschen geringer ist, als ich es von ihnen erwarte. Wie sollen wir dann die Welt verändern?» Auch K. wünscht sich, dass mehr Menschen ihren «privilegierten Arsch» hochbekommen, sich einsetzen und an politischen Kämpfen beteiligen, statt über Hindernisse zu jammern. «Die Pandemie löste eine Lethargie aus. Viele dachten sich, dass sie nun nichts mehr tun müssen, da keine Versammlungen möglich sind.»
Noch immer sei es schwierig und anstrengend, die «kapitalistischen, patriarchalen, cis-heteronormativen Strukturen » im Alltag zu durchbrechen. Für L. gibt es zu viele Baustellen und zu wenige Bauarbeiter*innen. «Viele Menschen merken nicht einmal, dass sie mit ihrem Verhalten ständig andere Personen ausschliessen.» Dabei begegnen uns jeden Tag viele unterschiedliche Menschen, mit denen wir unser Verhalten reflektieren und selbstkritisch sein könnten. Und doch: «Meine revolutionäre Idee lebt von der Hoffnung. » Und wenn es halt nicht für die Weltrevolution reiche, so sei es doch zumindest wichtig, sich für die Menschen in seinem Umfeld einzusetzen. «Es gibt genügend Menschen, denen Gutes getan werden kann.»