Viren sind wirtsspezifisch. Das heisst, ein bestimmtes Virus infiziert in der Regel nur bestimmte Organismen. Im Laufe der Evolution hat sich in den meisten Fällen ein Gleichgewicht zwischen Viren und ihren spezifischen Wirten eingestellt: Angepasste Krankheitserreger schaden den befallenen Organismen meist nicht über ein bestimmtes Mass hinaus. Das macht Sinn, denn sie benötigen die Wirte für die eigene Entwicklung, Vermehrung und die weitere Übertragung. Gleichzeitig hat sich das Abwehrsystem der Wirtsorganismen angepasst. Es hält die Krankheitserreger in Schach, ohne gleich allzu heftig zu reagieren und verhindert damit einen übermässigen Verschleiss der knappen Ressource Energie durch das Immunsystem. Doch wenn ein Virus auf einen neuen Typ von Organismus überspringt, kann dieses Gleichgewicht gestört werden – mit möglicherweise tödlichen Folgen für die neuen Wirt*innen.
Dies ist zum Beispiel der Fall, wenn eine Übertragung von nicht-menschlichen Tieren auf den Menschen stattfindet. Einige der bekanntesten «zoonotischen» Krankheiten – also solche, welche die Grenze zwischen menschlichen und nicht-menschlichen Tieren überwinden – werden von unterschiedlichen Typen des Influenzavirus A verursacht. Diese Virusart, die in der Natur in wilden Wasservögeln vorkommt, ist für einige der schlimmsten Epidemien der Geschichte verantwortlich. Unter anderem für die Spanische Grippe, die Vogelgrippe und die Schweinegrippe.
Gefundener Sündenbock
Auch am Anfang der Coronapandemie stand ein solcher Wirtssprung: Das Virus mit dem wissenschaftlichen Namen SARS-CoV-2 ist in seinen ursprünglichen Wirten, vor allem Hufeisennasen-Fledermäusen, weit verbreitet und führt bei diesen selten zu einer tödlichen Erkrankung. Doch Ende 2019 schaffte es das Virus vermutlich zum ersten Mal, sich bei einem Menschen einzunisten – mit den bekannten Folgen.
Wie konnte aber das Virus auf den neuen Wirt übertragen werden? Schon sehr bald nach Beginn der Coronakrise wurde darüber spekuliert, wo und wie die Pandemie ihren Ursprung genommen hat. Schnell waren die mutmasslich Schuldigen auf einem sogenannten «Wet Market» in der chinesischen Provinz Wuhan gefunden. Auf diesen Märkten werden lebendige Tiere – auch Wildtiere – verkauft und auch direkt vor Ort geschlachtet. Ein idealer Sündenbock für Europa, frei nach dem Motto: Weit weg, etwas barbarisch («Wer isst denn schon Schlangen und Fledermäuse?»), chaotisch, unzivilisiert und irgendwie schmutzig.
Auch ein Beitrag im Schweizer Fernsehen mit dem Titel «Wie verhindern wir die nächste Pandemie?» suggeriert, dass das grundlegende, für die Pandemie verantwortliche, Problem ein unhygienischer Umgang mit Tieren sei. Ausserdem: Die Gesundheit von Millionen werde für exotisches Brauchtum und wegen ein bisschen Frischfleisch aufs Spiel gesetzt, denn «die Märkte gehören in sehr vielen Ländern zur Kultur und Tradition […], wo die Kühlkette [beim Transport und Lagerung von Fleisch] nicht eingehalten werden kann».
Mehr Übertragungsmöglichkeiten
Eine solche Analyse ist nicht nur zutiefst rassistisch, sondern auch völlig verkürzt. Vergessen geht, dass ähnliche Ausbrüche von für den Menschen neuartigen Krankheiten ihren Ursprung auch in «modernen» Landwirtschaftsbetrieben nahmen. Beispiel: Schweine- oder Vogelgrippe. Um zu verstehen, welche wiederkehrenden Muster beim Entstehen solcher Epidemien und Pandemien auftauchen, scheint sich insbesondere ein Blick auf die kapitalistische Landwirtschaft, die zunehmende Massentierhaltung sowie die Urbanisierung und das menschliche Eindringen in ökologisches Hinterland zu lohnen. Denn wo sich die Schnittstelle zwischen Mensch und Tier verändert, wandeln sich auch die Bedingungen, unter denen zoonotische Sprünge möglich sind und sich solche Krankheiten entwickeln. Laut dem Evolutionsbiologen Robert G. Wallace, der durchaus marxistische Überlegungen in seine Analysen einbezieht, finden zoonotische Übertragungen von krankheitsverursachenden Viren in zwei Kontexten statt: Im Kerngebiet der agrarindustriellen Produktion sowie in ihrem Hinterland.
Covid-19 ist vermutlich ein Beispiel für eine Epidemieentstehung des zweiten Typs. Ihre Grundprinzipien lassen sich auch anhand einer anderen Krankheit aufzeigen, an der in wiederkehrenden Ausbrüchen bereits Tausende gestorben sind: Ebola. Ursprungswirte für den Ebola-Virus sind vermutlich mehrere in West- und Zentralafrika heimische Fledermausarten, die das Virus übertragen, selbst aber nicht daran erkranken.
Jenseits seiner ursprünglichen Wirtsspezies hat Ebola einen äusserst aggressiven Lebenszyklus. Das Virus verursachte mehrere grosse Epidemien mit extrem hohen Sterberaten von meist über 50 Prozent. Wallace beschreibt in seinem Buch «Big Farms Make Big Flu», wie alle Ebola-Ausbrüche mit kapitalgetriebenen Landnutzungsänderungen verbunden zu sein scheinen. So können Änderungen an Eigentumsverhältnissen und Produktionsmethoden, die durch neoliberale Umstrukturierungen in verschiedenen afrikanischen Ländern vorangetrieben werden, die gebietsspezifische Entstehung von Ebola gut erklären.
Bei traditionellen Bewirtschaftungsformen wie der Agroforstwirtschaft stehen den Viren in der Regel kaum genügend Übertragungsmöglichkeiten zur Verfügung. Der Kontakt zwischen Wildtieren und Menschen ist bloss sporadisch. Entwaldung und intensive Landwirtschaft zerstören diesen Schutz. Das Vordringen in das ökologische Hinterland, in bisher nicht oder nur extensiv genutzte Wälder und Steppen und die Intensivierung der Landwirtschaft, erhöht somit das Risiko einer Übertragung von neuen Krankheiten erheblich.
Viraler Brutkasten
Der zweite Ort, an dem Pandemien ihren Anfang nehmen, ist ein Herzstück der kapitalistischen Landwirtschaft: Die Massentierhaltung. Wallace weist darauf hin, dass domestizierte Tierpopulationen, die in Industriefarmen eng zusammengepfercht sind, in offensichtlicher Beziehung zum Ausbruch von Krankheiten wie der Vogelgrippe und der Schweinegrippe stehen. Denn in grossen, engen Ställen können sich besonders aggressive Virenstämme entwickeln und ausbreiten.
Ein Schlüssel für die Evolution solcher Stämme ist die hinreichende Versorgung mit potenziellen Wirten, was in freier Wildbahn kaum vorkommt. Zum einen treffen viele Wildtiere selten auf ihre Artgenossen. Ein Virus, das starke oder sogar lebensbedrohliche Symptome verursacht und damit das Leben seines Wirts erheblich verkürzt, hat unter diesen Bedingungen eine geringe Chance, von einem befallenen Organismus auf den nächsten übertragen zu werden. Zum anderen sinkt durch eine hohe Sterblichkeit die Verfügbarkeit von potenziellen Wirten auch in grossen Tierpopulationen, wie zum Beispiel bei Herdentieren. Die Epidemie brennt früher oder später aus. Diese Nachteile verschwinden in der Massentierhaltung. Grosse Tiermengen und -dichten ermöglichen hohe Übertragungsraten. Dazu kommt ein hoher sogenannter Durchsatz – Teil jeder industriellen Produktion – der für einen ständig erneuerten Vorrat an neuen potenziellen Wirten sorgt. Das ist der Treibstoff für die Entwicklung von aggressiven Virenstämmen.
Massentierhaltungsbetriebe dienen somit als eine Art viraler Brutkasten, in denen sich aggressive Virenstämme entwickeln, halten und vermehren können. Kommt es in einem solchen Betrieb regelmässig zu Kontakten zwischen den Nutztieren und Arbeiter*innen, ist es nur eine Frage der Zeit, bis ein zoonotischer Sprung stattfindet.
Doch nicht nur die enge und massenhafte Haltung begünstigt den Ausbruch von Epidemien und Pandemien mit für den Menschen neuen Krankheitserregern. Die ganze Logik der kapitalistischen Produktion von tierischen Produkten führt dazu, dass ideale Bedingungen für die Vermehrung und Weiterverbreitung von Virenstämmen geschaffen werden: Züchtung führt zu genetisch sehr ähnlichen Tieren – auch über Betriebe und Länder hinaus – und damit zu weniger Diversität und Immunität. Und nicht zuletzt spielt auch die globale Arbeitsteilung und der Transport von lebenden Tieren über weite Strecken eine Rolle, wenn zum Beispiel Tiere an einem Ort aufgezogen, an einem anderen gemästet und an einem dritten geschlachtet werden.
Wir müssen uns hüten, scheinbar einfache Erklärungen für den Ausbruch von Pandemien bei fehlender Hygiene in der Tierhaltung oder gar bei «Traditionen» und rassistischen Stereotypen zu suchen. Ansatzpunkte zur Prävention zukünftiger Pandemien sind vielmehr im viralen Brutkasten der kapitalistischen Landwirtschaft mit ihrer Landnahme und Massentierhaltung zu finden. Denn dort entstehen die Bedingungen, durch die immer verheerendere Plagen geboren, zu zoonotischen Sprüngen veranlasst und dann aggressiv durch die Bevölkerung getrieben werden.