Als junge weisse cis-Frau mit Schweizerpass, ohne physische oder psychische Beeinträchtigung, stammend aus einer Familie der Mittelklasse, schreibe ich diesen Artikel aus einer enorm privilegierten Position. Ich konnte eine Ausbildung an elitären europäischen Universitäten in Bern und London geniessen, wo ich Menschen traf, welche mir einen Spiegel vorhielten und darauf beharrten, dass ich mich unwohl fühlen muss, um rassistische, geschlechtliche und koloniale Machtverhältnisse zu erkennen, zu hinterfragen und zu dekonstruieren. Speziell während und nach den Kursen in London verspürte ich Unbehagen, da die Dozierenden weisse Menschen wie mich anregten, uns mit unserem Weisssein und dem daraus folgenden Ethno- und Eurozentrismus auseinanderzusetzen. Das Unbehagen drückte sich bei mir in Form von tiefer Trauer aus. Trauer darüber, dass viele Menschen täglich von mehreren -ismen und Phobien – Rassismus, (Neo-)Kolonialismus, Sexismus, Ableismus, Homophobie, Transphobie oder Islamophobie – betroffen sind. Mich beschämt, dass Menschen mit derselben Hautfarbe wie ich so viel Leid anrichteten und anrichten; dass ich vielleicht selbst Leid angerichtet habe oder immer noch Leid anrichte?
Ich selbst kenne diskriminierende Erfahrungen, ausser den sexistischen Erlebnissen, kaum. Mich mit Diskriminierungsformen zu befassen, die ich nicht am eigenen Leib erfahre, bedingt das Verlassen von dem, was Tupoka Ogette Happyland nennt, und das Anerkennen, dass auch ich von Zeit zu Zeit solche -ismen reproduziere und phobische Reaktionen zeige.
Meine Aufgabe lautet also, mittels dekolonialer Perspektiven die mir durch meine Sozialisierung in einer europäischen, weissen Gesellschaft eingeprägten eurozentrischen, rassistischen und kolonialen Rationalitäten und Realitätsauffassungen kritisch zu betrachten.
Dekolonisation ist nicht vollbracht
Unter Dekolonisation wird üblicherweise der im 20. Jahrhundert erfolgte Abzug der europäischen Kolonialmächte aus ihren Kolonien oder die Formierung von souveränen, «unabhängigen» Nationalstaaten in den kolonisierten Regionen verstanden. Dekolonisation bedeutet, den Indigenen das gestohlene Land zurückzugeben, was in Kontexten Australiens, Kanadas oder den USA bis heute, wenn überhaupt, dann nur teilweise umgesetzt wurde.
Dekolonisation muss auch in der Schweiz, einem Land, von dessen Kolonialgeschichte selten gesprochen wird, unbedingt thematisiert und praktiziert werden. Post-koloniale Forschende sprechen von einem «Kolonialismus ohne Kolonien» und dekonstruieren das schweizerische Bild der kolonialen Unschuld, der Schweiz als Sonderfall sowie die romantisierte Darstellung der Schweizer Neutralität. Schweizer Akteur*innen waren und sind in diverse krumme Geschäfte involviert: Etwa durch Waffenhandel mit kriegsführenden Akteur*innen, die finanziellen Transaktionen im Zweiten Weltkrieg, Geldwäscherei, das Bankgeheimnis oder das Horten von privatem Vermögen von Diktatoren. Die Schweiz hat während des Kolonialismus informelle Netzwerke und indirekte Formen der Kontrolle aufgebaut, wodurch koloniale, rassistische Vorstellungen erzeugt wurden, die bis heute überdauern. Die Schweiz ist Teil eines westlichen Modernitätsdiskurses, konstituiert durch koloniale Expansion und Rassismus. Unser Bildungssystem, unsere Erziehung, unsere Universitäten lehren uns noch heute eine eurozentrische Rationalität, die sich nur schwer überwinden lässt. Die europäische Moderne beinhaltet die Annahme, die ganze Welt solle sich durch Modernisierung und Entwicklung in eine bestimmte Richtung bewegen. Frantz Fanon artikulierte seine Erfahrung dieses kolonialen Projekts der Moderne als schmerzhafte Schlussfolgerung, die ihm gegen seinen Willen aufgedrängt werde: For the black man there is only one destiny. And it is white. Alles, was nicht weiss ist, wird als traditionell, irrational und unterentwickelt dargestellt. Da sich westliche Gesellschaften oft als »modern’ und fortgeschritten sowie als Vorbild in Sachen Geschlechtergleichstellung, Akzeptanz von Homosexualität oder Menschenrechten sehen, fühlen sie sich ermächtigt, ihre Konzepte und Denkweisen zu exportieren und sie anderen Gesellschaften aufzudrängen. Dadurch werden andere Lebensweisen und Wissenssysteme verdrängt. Beispiele für aus Europa exportierte Konzepte sind das binäre, hierarchische Geschlechterverständnis von Mann und Frau, Heterosexualität, Monogamie, wissenschaftliche Rationalität und Objektivität, Kernfamilie, Ehe oder auch Menschenrechte.
Der Kompass zeigt nach Norden
Viele Menschen mit einem politischen Selbstverständnis als Linke, setzen sich für die globale Verbreitung von Menschenrechten ein, ohne deren problematische Aspekte zu bedenken. Menschenrechte scheinen etwas Natürliches, etwas «Gutes»; etwas, das die Welt bräuchte; ein Instrument, das das Leben für Menschen ausschliesslich positiv verändert. Kurz, in den Worten Gayatri Spivaks: Menschenrechte sind das, was mensch nicht nicht wollen kann.
Im 20. Jahrhundert erlangten Menschenrechte enorme Popularität, obwohl noch nie so viele Menschenrechtsverletzungen begangen wurden wie zu dieser Zeit. Menschenrechte haben ihre Schattenseite. Sie bergen vor allem dann Risiken, wenn sie den Anspruch haben, universell anwendbar und gültig zu sein.
Menschenrechte kennen die meisten Europäer*innen aus der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte von 1948. Im öffentlichen Diskurs wird mehrheitlich von der Französischen Revolution, von Hobbes, Rousseau und Montesquieu gesprochen, kaum aber vom haitianischen Kampf gegen die französische Kolonialmacht, von den Aufständen gegen Sklaverei oder Apartheid. Menschen wie Bartholome de las Casas, W.E.B du Bois oder Rigoberta Menchú sind kaum bekannt.
Die westliche Auffassung von Menschenrechten beinhaltet das Bild eines säkularen, «aufgeklärten», individualistischen, eher männlichen als weiblichen Menschen. In anderen Auffassungen des Menschseins ist der Mensch vielmehr mit dem Kollektiv und mit Nicht-Menschlichem, mit dem Kosmos und dem Universum verbunden. Wenn für Menschenrechte und ihre globale Anwendung plädiert wird, muss bedacht werden, dass diese Rechte vielerorts nicht mit den lokalen Rechtssystemen korrespondieren und deshalb nicht einfach «übersetzbar» sind. Besonders afrikanische Staaten mussten nach dem Erlangen ihrer «Unabhängigkeit» internationale Menschenrechtsinstrumente einführen, da sie sonst nicht als «moderne» Staaten galten. Der Westen macht durch seinen Menschenrechtsdiskurs Vorgaben, wer internationales Mitspracherecht bekommen darf und wer nicht.
Menschenbilder und Ausschlussmechanismen
Staaten wie die USA, selbst-ernannte «Gründerin» der Demokratie, und Frankreich, vermeintlicher Vorbildstaat für Gleichheit, Freiheit und Brüderlichkeit, stellen sich heuchlerisch als menschenrechtsfreundliche Staaten dar, wobei man sich fragen muss, wer in diesen Staaten als Mensch anerkannt wird und wer nicht. Der dominante Menschenrechtsdiskurs führt zu Exklusion. Es wird uns vorgespielt, alle Menschen wären gleich, obwohl der prototypische Mensch der Menschenrechte ein ganz bestimmter ist: Er ist weiss, cis-männlich, wohlhabend, privilegiert, heterosexuell, rational, individualistisch, gebildet und hat einen bestimmten Pass oder zumindest eine Aufenthaltsbewilligung. Viele Menschen, die diesem idealisierten Bild des Menschseins nicht entsprechen, beispielsweise Menschen ohne Staatsbürger*innenschaft, können nicht auf Menschenrechte zurückgreifen. Menschenrechte gelten in der Praxis nur für bestimmte Menschen.
Veranschaulicht wird somit, weshalb das Universalisieren und Globalisieren von westlichen Konzepten einen gewaltvollen, neo-kolonialen Akt darstellt. Sollen Menschenrechte deshalb abgeschafft werden? Soll das Haus des Masters, wie Audre Lorde es formulieren würde, komplett zerstört oder nur teilweise renoviert werden? Lorde erklärt, dass alternative Werkzeuge entwickelt werden müssen, um die kolonialen und rassistischen Aspekte westlicher Konzepte zu beseitigen. Ob solche Konzepte komplett verworfen werden sollten oder nicht, kann ich nicht beantworten. Menschenrechte zu dekolonisieren würde bedeuten, sie neu zu denken und andere Menschenrechtsgeschichten zu erzählen. Zum Beispiel, indem westliche Medien nicht nur Menschenrechtsverletzungen aus anderen geographischen Regionen dokumentieren, nicht nur Armut und Elend zeigen, sondern, dass es besonders in kolonisierten Ländern enorm viele Menschen gegeben hat und gibt, die sich schon seit Jahrhunderten für Menschenrechte und Humanität einsetzten. «Wirkliche» Dekolonisation würde bedeuten das immer noch besetzte Land zurückzugeben sowie hegemoniale Konzepte, Denkweisen und Handlungen aktiv zu dekolonisieren.
Dekolonisation bedingt, dass sich weisse Menschen endlich mit Kolonialismus, Rassismus und, am allerwichtigsten, mit ihrem Weisssein und ihren Privilegien auseinandersetzen. Das Unbehagen, das eine solche Auseinandersetzung mit sich bringt, ist notwendig, damit eurozentrische, rassistische und koloniale Denkweisen erkannt und bekämpft werden können. Durch dieses Unbehagen lernen weisse Menschen (hoffentlich) zuzuhören, zu hinterfragen und kreative Transformationen einzuleiten.