Und dann schleppt man sich sonntagmorgens nach wenigen Stunden Schlaf durch den tiefhängenden Nebel Berns auf die Schütz. Dort eine lose Gruppe Menschen, wartend. Ich ertappe mich beim kurzen Funktionskleidungscheck – was haben die anderen an, was ich nicht habe? Ich bestehe den Test.
Es sind erste Transpis zu sehen. Erste, noch verhaltene Gesänge werden angestimmt. Meine morgendliche Kontaktunlust und das plötzliche Auftauchen eines weissen Cars – Schriftzug «Eurobus» – verhindern Gespräche. Also Einsteigen, es gibt Platz, Schlafversuche, kurzes Augenöffnen im Eger-/Härkinger Logistikmoloch, Augen zu, plötzlich Zürichsee, Walensee und dann da – in Landquart, im Olten Graubündens, nicht nur wegen der zentralen Bedeutung für den Schienenverkehr – hier steigt man von der normalspurigen SBB in die meterspurige Rhätische Bahn um – nein, auch das Ortsbild deprimiert in Oltner Manier.
Raus aus Landquart
Zuerst die Platzdemo auf dem Bahnhofplatz in Landquart. Hier stehen Kinder und Erwachsene, Babyglatzen und graues Haar, Menschen aus unterschiedlichen Bubbles. Erstmal lokales «Bun di», dann folgen Reden – eine Klimaseniorin und jüngere Aktivist*innen, zwischendurch irische Volksmusik. Als um halb zwei die erste Etappe in Angriff genommen wird, sind über tausend Menschen Teil der Demonstration. Ich habe meine Bezugsgruppe, die mit dem Zug angereist ist, mittlerweile gefunden und wir verlassen Landquart langsam, vorbei an Siebzigerjahrebauten, Gegendemonstranten mit einem «Fleisch ist mein Gemüse»-Transpi und quasi Spalier stehenden, freundlich grinsenden Feuerwehrmännern.
Bei der ersten Pause auf einer Wiese neben einem Biotop verdeutlicht sich die durchdachte Organisation der Winterwanderung. Menschen, die noch nicht in Bezugsgruppen unterwegs waren, haben hier die Möglichkeit, neue zu bilden. Auch Schlafplätze in Schiers, der Tagesdestination, werden verteilt. Weiter geht’s: Neben dem Soundmobil hergehend packt mich ein Motivationsschub und trägt mich bis nach Grüsch.
Grüsch ist das erste Dorf auf der Wanderroute. Hier stehen die Dorfbewohner*innen auf den Balkonen, an den Fenstern, winken, zeigen Daumen. Im ersten Moment ist es schön zu sehen, dass sich ansässige Menschen mit der Wanderung solidarisch zeigen. Dann stellt mein Kopf komische Assoziationen her – die grosse Gruppe, die geschlossen unten auf der Strasse geht und die Menschen am Strassenrand, an den Fenstern – es erinnert alles an einen willkommenen Armeeeinmarsch, mich gruselts und ich versuche den Gedanken zu verdrängen.
Meine Beine halten mir auf den letzten Metern nach Schiers den wenigen Schlaf in der Nacht zuvor und meine tabakreduzierte Fitness vor. Dann endlich Ankunft. Veganes Essen gibt’s im Bildungszentrum Palottis, dort folgt auch eine Podiumsdiskussion zum Thema Klima, die von den Organisator*innen der Wanderung geplant wurde. Meine Bezugsgruppe überspringt diesen Teil und gönnt sich Nachtisch-Pommes und Alkoholika in der «Pizzeria Grischa» neben einer riesigen Glotze. Zufrieden lege ich mich dann in «Halle zwei» der Sportanlage Oberdorf auf einer Zivilschutzmatratze auf den Boden und zwischen Yogaübungen anderer, Gelächter und redseliger Abendstimmung holt mich die Müdigkeit ein.
Schweigen in der Sonne
6:30 – der Wecker in Schiers ist eine Ukulele, die klimpernd durch den Raum getragen wird. Deswegen kurze Krise, dann Schnellfrühstück, um acht müssen die Schüler*innen wieder ins Bildungszentrum. Los geht die zweite, mit 22 Kilometern längste Etappe. Klar wird, dass viele der Menschen vom Vortag heute nicht mehr dabei sind. Etwa fünfhundert Menschen gehen die ersten Kilometer auf einer schattigen Nebenstrasse, hin zu einer Kuppe, hinter der die Sonne wartet. Ergriffen bleibt die ganze Gruppe stehen, eine Schweigeminute wird ausgerufen. Im ersten Moment Konfusion, kurze Abwehrreaktion gegen Gspürschmi-Film, dann schliesse ich die Augen und geniesse die Wärme auf meinem Gesicht.
Vor dem Gasthaus «Landhaus» in Jenaz schenkt die Wirtin solidarisch heissen Punsch aus. Kurz darauf Mittagspause im Schattenloch einer Schreinerei und erste Deli-Plenen, an denen das Vorgehen für den unbewilligten Dienstag besprochen wird. Unterwegs durchquert der Umzug Dörfer, wobei das Gefühl aufkommt, dass dabei ein bisschen Demo gespielt wird. Ab Ortseingang laute Parolen, Gesänge, auch Reden über den Speaker. Nachher wieder ruhigere Stimmung. An einem Fenstersims vor Klosters trinkt eine Frau Obstbrand mit den Demonstrierenden, Solidaritätsbekundungen – ob persönlich oder als Grussbotschaften auf Kreidetafeln – sind immer wieder anzutreffen.
Unsolidarischer sind die Zivilpolizist*innen in der Wandergruppe. Ein offensichtlicher Zivi mit blauer Jacke und Knopf im Ohr wurde schnell enttarnt, ab da von der anwesenden Clown-Army flankiert und mit einem auf ihn gerichteten Schild, «Zivi», gekennzeichnet.
Die Übernachtung in der «Arena Klosters» mit vierhundert Menschen in einem Mehrzwecksaal, in dem zuvor noch eine Podiumsdiskussion unter anderem mit Luisa Neubauer, der Sprecherin von FFF Deutschland, stattfand, gestaltet sich in militärisch anmutenden Matratzenreihen mit Rettungsgassen dazwischen erholsam. Mein Bauch gibt lustige Geräusche von sich, da ich mir vom Dessert, selbst gemachten Donuts vom Kochkollektiv, stolze sieben Stück einverleibt habe.
«Tamtam!»
Dienstagmorgen weckt das LED-Licht im Saal der «Arena Klosters» mit einem holprig simulierten Sonnenaufgang; zuerst rot, dann weiss gedämmt, dann gleissende Helligkeit. Guten Morgen!
Wir trödeln aus der «Arena» und treffen auf die Besammlung der mittlerweile wieder etwa siebenhundert Demonstrierenden. Ein Teil der Gruppe fährt eine Etappe mit dem Zug, der andere, dem ich mich als mittlerweile motivierter Wanderer verpflichtet fühle, zu Fuss über Wanderwege, stockend, teilweise in Einerreihe durch den Schnee. Das ewige Stop-and-Go setzt mir zu, trotzdem mein erstes Hoch des Tages – immer näher kommen wir Davos, ein Gespräch über «Frozen» und die Lächerlichkeit der «Wilden Kerle» lenkt ab.
In Laret treffen Wander- und Zuggruppe zusammen und machen sich bereit zur ersten Überquerung der Hauptstrasse, der Hauptverkehrsachse nach Davos. An der Kreuzung spaltet sich der hintere Teil der Demo auf die Strasse ab. Gejohle, Gesang, Blockade. Schnell ist die Polizei mit Sperrgitterfahrzeugen vor Ort und es wird klar, dass die Hauptstrasse nicht bewandert werden kann. Blockieren geht aber, eine halbe Stunde wird die Strasse gesperrt, die Konvois der WEF-Gäste stauen sich unterhalb der Blockade bis nach Klosters. In Davos Wolfgang biegt wieder ein grosser Teil der Gruppe auf die Strasse ab, wieder kann ein Stück des Weges auf der Hauptstrasse zurückgelegt werden. Der Letzte auf der Blockade der Strasse ist hier ein grauer Langhaarpudel, für den sich niemand verantwortlich fühlt. Guter Junge, er muss dem Demozug seit Klosters nachgezottelt sein.
Aus den zwei Strassenblockaden lernt die Polizei und blockiert die Strasse bei der dritten Kreuzung mit dem Wanderweg solidarisch gleich selber. Überquert werden dürfe diese nur in einer geschlossenen Gruppe und ohne «Tamtam». Unter lauten «Tamtam»-Rufen überqueren wir die Strasse und schon sind wir da, in Davos, erstmal am See.
Hier ist es tötelig, Pripyat-feel-alike, massenweise leere Ferienwohnungen, kaum Passant*innen. Am See ein Typ neben drei Schneemännern, der in Winterkleidung alleine grilliert. Was ist denn das hier? Später eine weisse Grussfahne auf dem Balkon eines Mehrfamilienhauses in der Hand einer euphorisch tanzenden Mitvierzigerin. Davos hinterlässt einen komischen Eindruck. Ich habe aber mein zweites Hoch heute – was für ein Zeichen! Der wohl erfolgreichste und am besten organisierte WEF-Protest seit Jahren. Alle haben es nach Davos geschafft, alle zu spät für die JUSO-Demo. Aber egal: trotzdem geschafft.