Kritische Kino-Popkultur Text: Nimal Bourloud | Bild: lka

Der Avatar – Komplex

Das Kino hat einen Avatar-Komplex, James Cameron einen Ally-Komplex und wir müssen uns damit beschäftigen, welche Filme, Geschichten und Repräsentationen wir eigentlich unterstützen wollen. Ein kritischer Blick auf,
Kino-Popkultur.

Anno 2009. Mensch pilgerte noch ins neue, nagellackweisse WESTside, der McFlurry vor dem Kinobesuch im Pathé schmeckte fantastisch und wir glaubten, Pandora sehe in 3D echter aus als die echte Welt. Well: «sooner or later though, you always have to wake up» (Jake Sully in Avatar I – Aufbruch nach Pandora). Als 2018 die Kitag-Kinos in der Berner Innenstadt schlossen, war ich erstaunt und leicht melancholisch. Mit meinem Grossvater war ich als Kind zeitweise fast jeden Mittwoch nach Bern gefahren, um dann z.B. im Kino Jura, im Capitol oder im Splendid einen Film anzuschauen. Ob mein Grossvater dabei ganz uneigennützig handelte, wage ich zu bezweifeln. Nach dem Mittagessen hatte er jeweils bereits alle in Frage kommenden Filme im Zeitungsprogramm ausfindig gemacht und ich musste bloss noch auswählen.

Kino der Superlative
Die Kitag-Kinos zogen allesamt nach Muri in den Cinedome. Direkt an der Autobahnausfahrt bietet dieses «Multiplexkino der Extraklasse» alles, was das Blockbuster-Herz begehrt: Supergeilstes Bild in 4K, 3D, HFR, IMAX oder 4DX, dazu Dolby Atmos Sound, bequemste Sessel und nebenbei Bowling und Gamerzone. Kitag heisst mittlerweile Blue Cinema und wird von der Swisscom AG geführt die, gemäss Firmenwebseite, eines «der nachhaltigsten und innovativsten Unternehmen der Schweiz» ist und zu 51% dem Bund gehört. Apropos Nachhaltigkeit und Innovation – dazu lohnt sich ein kleiner statistischer Exkurs zum Kinoprogramm des Cinedomes. Wenn ich mir zum Beispiel das Programm der 10. Kalenderwoche im 2023 anschaue, dann fällt Folgendes auf: In dieser Woche finden in Muri insgesamt 213 Kinovorstellungen statt. Davon wurden bei 210 Vorstellungen Filme von männlichen (und hauptsächlich weissen) Filmemachenden gezeigt. Alle der ins Programm aufgenommenen Produktionen stammten aus dem globalen Norden und davon wiederum 71% aus der USA. Eine Woche Kinostatistik ist jetzt noch nicht unendlich aussagekräftig, aber na ja, vielleicht sollte sich die Swisscom (und damit zu 51% der Bund) mal genauer damit befassen, was Nachhaltigkeit und Innovation bei Blue Cinema genau bedeuten soll.

Screw James Cameron but…
Nachdem ich den Besuch von Multiplexkinos lange erfolgreich vermieden hatte, war es dann im Dezember wieder mal Zeit, der Versuchung nachzugeben. In einer Freund*innen-Gruppe fuhren wir mit selbstgemachtem Fastfood – Ofenpommes und Vegi-Burgern – nach Muri, um Avatar II – The Way of the Water in IMAX 3D anzuschauen. Unsere Erwartungen wurden nicht enttäuscht: Die Ticketpreise waren schwindelerregend und das audiovisuelle Spektakel atemberaubend. Pandora sah wieder mal besser aus denn je, eine «neue» indigene Kultur wurde kennengelernt und dem bösen weissen Space-Kolonialismus konnte dank der Sully-Familie, einem Walfisch und Mutter Erde/Pandora aka «Eywa» einmal mehr getrotzt werden.
«Screw James Cameron», schreibt die Blackfoot und Sámi Filmemacherin Elle-Máijá Tailfeathers auf ihrem Instagram-Profil. Das finde ich auch und würde den alten weissen Avatar-Regisseur gerne ignorieren. Gleichzeitig drängt sich aber eine Betrachtung auf, da der Filmemacher in der heutigen Kinolandschaft eine geradezu exemplarische Stellung einnimmt. Wenn es um erfolgreiche Blockbuster geht, dann schlägt James Cameron nämlich alle anderen um Längen. Unter seiner Regie sind mit Avatar I (2009), Avatar II (2022) und Titanic (1997) drei der vier kommerziell erfolgreichsten Filme der Filmgeschichte entstanden. Dabei darf der Impact des US-amerikanischen Mainstreamkinos auf die globale Verbreitung von bestimmten Bildern und Ideologien nicht unterschätzt werden. Das muss nicht zwingend negativ sein. Eine Freundin machte mich darauf aufmerksam, dass die 2012 erschienen Filme The Hunger Games und Brave massgeblich dazu beitrugen, dass junge Mädchen anfingen, Bogenschiessen zu lernen.

Digitalisierungswelle
Zurück im Jahr 2009 führte der Erfolg von Avatar eine fast geräuschlose Revolution an, die nur Wenige bemerkten: Das Ende des analogen Kinos. Fast alle Kinobetriebe, die noch nicht digital umgerüstet hatten, holten das zu diesem Zeitpunkt nach und die alten Filmprojektoren wurden ausrangiert. In nur drei Jahren stieg gemäss der Jahresstatistik von ProCinema die Digitalisierungs-Quote der Schweizer Kinos von 9% im Jahr 2009 auf 90% Ende 2012. Klar, die Digitalisierung des bereits damals kränkelnden Kinos hätte auch ohne Avatar stattgefunden, aber trotzdem ist sie nun historisch gesehen eng damit verknüpft. Der Film machte 3D vorübergehend populär, führte das Volk zurück ins Kino und gelobte das grosse Geld. Kein Wunder also, fand ein beachtlicher Teil der Kinobetriebe in Vertretern, wie Cameron ihre neuen Propheten der technischen Innovation. Und so sprach Cameron zum Volk: Lasst mich euch leiten ins Licht, denn ich bringe euch das ultimativste Kinoerlebnis in 3D. Und nebenbei bringe ich euch eine bessere Welt. Ich, Cameron, der auserkorene «Ally» von Mutter Erde und der marginalisierten Gruppen – der Indigenen, der Frauen, der Menschen mit Behinderungen oder der Arbeiter*innenklasse (im Fall von Titanic).

Spektakel der Oberflächlichkeit
Die Story von Avatar I & II ist simpel und geht in etwa so: Jake Sully, ein querschnittsgelähmter Ex-Marine Soldat reist auf den Planeten Pandora, wo er sich mithilfe eines im Labor gezüchteten Avatar-Körpers auf die Seite der indigenen Bevölkerung (Na’vi) stellt, um fortan gegen den menschlichen Kolonialismus und Extraktivismus (Ressourcen-Abbau) auf Pandora anzukämpfen. Jake kommt mit der Häuptlingstochter Neytiri zusammen und wird zum grossen Anführer des indigenen Wiederstandes, sie bekommen Kinder und adoptieren noch zwei dazu, seine Söhne müssen Jake mit «Sir» ansprechen und in einem Voiceover äussert Jake zuweilen seine Lebensphilosophien: «Wherever we go this family is our fortress» oder «A father protects. It’s what gives him meaning».
13 Jahre lang hätte Avatar innovativ weiterentwickelt werden können. Leider fokussierte Mann auf technische Spielereien. Auf der Ebene der Geschichte und der Produktion finde ich die Innovationen nicht. Mehr noch als sein Vorgänger spritzt Avatar II von konservativen Familienbildern, problematischen Genderkonstruktionen und stereotypischen Darstellungen. Dabei gab es bereits seit 2009 Kritik und Boykottaufrufe seitens indigener Gruppen, die dem Film etwa «White Saviorism» oder «Bluefacing» vorwarfen. Wie kann es heute noch sein, dass eine Geschichte, die sich explizit auf indigene Gruppen (z.B. Māori oder Lakota Sioux) auf der Erde bezieht, ausschliesslich von weissen Personen geschrieben wird? Wie kommt es, dass die grosse Mehrheit der Schauspieler*innen nicht indigen sind, sondern ebenfalls weiss? Pandora blieb trotz Diversitätsbestrebungen ein «melting pot» oberflächlicher Darstellungen indigener Kulturen, durchdrungen von weissen, männlichen Hollywood-Ideologien. Die Kritik verpuffte, Avatar ist «too big to fail».

Der Ally-Komplex
Für mich hat Avatar/Cameron unter anderem ein Problem, für das ich den Begriff «Ally-Komplex» passend finde. Wahrscheinlich meint es der Filmemacher im Prinzip gut. Die behandelten Themen sind wichtig und er erreicht ein enormes Publikum damit. Hier werden sogar die Menschen angesprochen, denen diese Themen nicht mal im Traum begegnen. Leider fehlt Cameron die nötige Sensibilisierung dazu, wie er seine Machtposition ethischer nutzen könnte. Den Ally-Komplex zu überwinden, heisst nicht zu schweigen, aber sich besser zu informieren und einen Schritt zurückzutreten für Andere, wann immer das möglich ist. Das ist ein Prozess für viele Allies und wenn es nicht beim ersten Mal klappt, dann hoffentlich beim Nächsten.
Kino kann nachhaltig und innovativ sein, Avatar und die Multiplexkinos der Extraklasse sind es nicht. 2024 kommt bereits Avatar III und wir können ja ‹mal hoffen, dass…› oder wir lassen es einfach bleiben. Besseres «Indigenous Cinema» lässt sich finden und wer ein*e Ally mit der lokalen städtischen Kinokultur sein möchte, geht z.B. ins Kino in der Reitschule, ins Lichtspiel, ins Rex, in die Cinématte oder sucht sich kuratierte Community-Filmreihen, wie die vom Feministischen Streikkino, dem ciné liminal oder der Kultmoviegang.