Ausgangslage des Bund/BZ-Artikels sind Beschwerden von anonymen Anwohner*innen des Quartiers. Am Randweg 21 sei es laut und komme immer wieder zu Auseinandersetzungen, auch Schlägereien. Die Journalist*innen des Artikels beschreiben ihre Wahrnehmungen des Ortes: herumliegende Zigarettenstummel, leere Flaschen in einem Hochbeet und handgeschriebene Türklingel-Schilder mit vorwiegend ausländischen Namen. Die Polizei habe laut Artikel Einsätze vor Ort bestätigt, es sei jedoch nie zu Festnahmen gekommen, weil keine strafbaren Handlungen festgestellt wurden.
«Mir haben sich alle Nackenhaare gesträubt.»
Gleich zu Beginn schaffe der Artikel eine negative Atmosphäre und kreiere einen unfreundlichen und angsteinflössenden Ort, analysiert Anna Jikhareva. Sie ist Reporterin bei der WOZ und Co-Präsidentin der Neuen Schweizer Medienmacher*innen, einem Netzwerk von Medienschaffenden, das sich für ausgewogene und antirassistische Berichterstattung einsetzt. Wegen der rassistischen Berichterstattung hätten sich ihr alle Nackenhaare gesträubt, sagt Jikhareva. Hausbewohner*innen werden ohne Namen und nur mit Nationalität vorgestellt: So ist beispielsweise vom «Mann aus Kamerun», dem «Mann aus Tibet» oder dem «Mann aus Eritrea» die Rede. «Es gibt überhaupt keinen Grund, warum man die Nationalität nennt, denn es handelt sich um soziale Fragen, die sich an diesem Ort stellen», so Jikhareva. Ein Bewohner spricht im Artikel von Arbeitslosigkeit und anderen Problemen.
Laut Artikel hätten die Bewohner*innen des Wohnblocks die Tamedia-Journalist*innen mehrfach gefragt, ob sie von der Polizei seien. Diese Erwähnung im Artikel vermittelt den Eindruck, dass der Randweg ein gefährlicher Ort sei, eine «No-Go-Area», erläutert Anna Jikhareva. «Ich möchte den beiden Journalist*innen nicht unterstellen, dass sie das absichtlich machen. Aber ihnen fällt nicht auf, dass die Polizei für People of Color Gefahr und nicht Sicherheit bedeuten kann. Und dass die Frage vielleicht darum gestellt wird, weil die Menschen Racial Profiling kennen».
«Die Wahreit ist nicht neutral.»
Auch Claske Dijkema kritisiert den Artikel. Sie ist Forscherin bei swisspeace und forscht zu Konflikt und Frieden in Städten. Die strukturelle Ebene der beschriebenen Situation müsse mehr in den Fokus gerückt werden, meint sie im Gespräch mit uns.
Bi aller Liebi: Claske Dijkema, was war dein Eindruck, als du den Artikel «Die Parallelwelt am Rande der Lorraine» gelesen hast?
Claske Dijkema: Was in dem Artikel beschrieben wird, ist bedrohliches Verhalten: Es gibt Menschen, die sich wegen des Lärms oder wegen betrunkener Menschen bedroht fühlen, manchmal gibt es Schlägereien. Die Tatsache, dass es einen Konflikt gibt, ist somit offensichtlich. Aber das beschreibt nur die Verhaltensebene. Um die Situationen vollständig zu verstehen, müssen wir auch zwei andere Aspekte berücksichtigen. Der eine ist die Wahrnehmung: Wie nehmen die Leser*innen des Artikels die am Konflikt beteiligten Menschen wahr? Und wie nehmen die Menschen, die am Konflikt beteiligt sind, sich gegenseitig wahr? Der andere Aspekt sind die Strukturen: In welche sozialen Strukturen ist der Konflikt eingebettet?
BaL: Beginnen wir mit den Wahrnehmungen. Was fällt da auf?
CD: Im Artikel werden zum Beispiel die Nationalitäten der verschiedenen Akteure genannt: Eritrea, Somalia, Kamerun. Unser Bild von diesen Ländern ist nicht neutral, sondern wird von den Medien geprägt. Wir stellen sie uns als konfliktreiche Orte vor, in denen es Krieg, viel Chaos und Korruption gibt. Mit anderen Worten: chaotische Gesellschaften.
BaL: Wir haben die Journalist*innen mit unseren Kritikpunkten konfrontiert. Auf unsere Frage hin, warum sie die Nationalität der Anwohner erwähnten, schrieben sie: «Eine Nicht-Erwähnung wäre eine bewusste Verschleierung und würde damit den migrationspolitischen Aspekt verleugnen. Das widerspricht unseren Vorstellungen eines unabhängigen und wahrheitsgetreuen Journalismus.»
CD: Aber die Wahrheit ist nicht neutral! Die von den Journalist*innen gewählten Begriffe erzeugen Bilder in unseren Köpfen: Migrant*innen, die ihre Konflikte in die Schweiz importieren. Das macht es zu einem ausländischen Problem und nicht zu einem Problem unser Schweizer Gesellschaft, in der es viele Menschen gibt, die von anderswo kommen und manchmal in extrem prekären und rechtlich schwierigen Situationen leben, die auch enormen Stress verursachen. Damit komme ich zu der strukturellen Ebene.
BaL: Und was ist diese strukturelle Ebene?
CD: Die Armut in Europa ist rassistisch geprägt. Es ist also auch eine Frage der sozialen Schicht. Trinken, laut sein, sich amüsieren – das ist Teil des Sozialverhaltens der Schweizer Kultur. Aber wenn man über eine bestimmte Menge Geld verfügt, macht man das in einer Bar. Dort gilt es als normales Verhalten. Wenn man nicht die Möglichkeit hat, in eine Bar zu gehen, dann nutzt man den öffentlichen Raum für diese Art der Geselligkeit. Die Klassenfrage spielt hier also auch eine Rolle. In dem Artikel heisst es weiter, dass es Pläne gibt, den Wohnblock zu renovieren. Wir kennen diesen Prozess: Alte Wohnblocks werden renoviert, und die Menschen, die dort gewohnt haben, können wegen den neuen, hohen Mieten nicht mehr zurückkehren. Der Randweg liegt an der Grenze zur Bahnlinie. Die Frage ist: Wohin werden diese Menschen umgesiedelt? Die Kombination aus schwieriger finanzieller Lage und rechtlich unsicherer Situation kann zu einer Menge Stress führen. Ich denke, dass wir in der Gesellschaft dieser Art von Prekarität und Unsicherheit viel mehr Aufmerksamkeit schenken sollten. Das wird in meinem Forschungsgebiet auch als administrative Gewalt bezeichnet. Das löst die Situation zwar nicht, aber es führt zu einer anderen Art von Lösungsansatz.
Die Verantwortung der Medien
Es gibt Konflikte am Randweg 21 in der Berner Lorraine. Der Bund/BZ-Artikel berichtet jedoch einseitig darüber und reproduziert rassistische Stereotype. Er vermittelt ein von Migrant*innen importiertes Problem und verpasst es, die strukturelle Ebene der Situation miteinzubeziehen: die Prekarität und Unsicherheit der finanziellen, beruflichen und rechtlichen Situation vieler im Block wohnhaften Personen. Auch die drohende Verdrängung der Bewohner*innen aus dem Quartier wird im Artikel nur beiläufig thematisiert.
Die Medien bestimmen mit, welche gesellschaftlichen Bilder, Stereotype und Narrative zirkulieren. Als Medienschaffende haben wir die Verantwortung, ausgewogen, umfassend und fundiert zu berichten. Dafür braucht es diversere Redaktionen mit vielfältigen Perspektiven und genügend Ressourcen. Es braucht Zeit für ausgiebige Recherchen, längere Gespräche mit Protagonist*innen und die Einbettung der erzählten Geschichten in grössere Zusammenhänge.
Dieser Artikel basiert auf einer Sendung von «Bi aller Liebi…», die am 27. November 2022 auf Radio RaBe lief. Beim Interview handelt es sich um Ausschnitte aus dem Live-Interview, welches vom Englischen ins Deutsche übersetzt wurde. Die ganze Sendung kann hier nachgehört werden: