Eine ehemalige Pflegefachfrau aus dem Psychiatriezentrum Münsingen teilt mit uns ihre Erfahrungen in der geschlossenen und Alterspsychiatrie. Sie wollte in diesem Bereich arbeiten, weil sie erkannt habe, wie sehr psychisch kranke Menschen stigmatisiert werden. Sie habe dazu beitragen wollen, dass sich diesbezüglich etwas ändert – vor allem, dass Betroffene ernst genommen werden und ihnen mehr zugehört wird. Den Patient*innen Halt und Zuneigung geben zu können sei motivierend, wenn auch nur für einen kurzen Moment. Jeden Tag habe sie Überzeit geleistet. Das konnten 5 Minuten oder auch 3 Stunden sein. Wenn ein*e Patient*in in einer Krise sei, habe sie nicht einfach so gehen können. Das Problem mit der Überzeit sei gewesen, dass nie genug Personal da gewesen sei, um diese Stunden wieder zu kompensieren. Der Lohn habe zum Leben gereicht, sei für die geleistete Arbeit aber zu wenig gewesen. An manchen Tagen habe sie sich nur noch ausgebrannt gefühlt, erzählt sie. Der Beruf habe sie und ihre Arbeitskolleg*innen oft an ihre Grenzen gebracht. Deshalb finde sie es wichtig, dass die Möglichkeit bestünde, psychologische und soziale Unterstützung zu erhalten. Sie habe viele Mitarbeitende zerbrechen sehen. Manche hätten ein Burnout gehabt. Doch nicht nur die psychische Belastung habe ihr zu schaffen gemacht, auch körperlich habe ihr die Arbeit immer wieder viel abverlangt. Mehrmals sei sie von Patient*innen angegriffen worden. Von Bissen bis hin zu gebrochenen Knochen hat sie vieles erlebt. Manchmal war sie für über zwanzig Patient*innen allein verantwortlich. Während das Personal im Idealfall nicht allein zu einer potenziell handgreiflichen Person ins Zimmer gehen sollte, bleibt in einer Notlage oft nichts anderes übrig, wenn es an Arbeitskräften mangelt. Vor 10 Jahren musste sie den Job aus gesundheitlichen Gründen aufgeben. Weder die Arbeitsbedingungen noch die Situation für Patient*innen scheinen sich seither merklich verbessert zu haben, wie neue Berichte aus Psychiatrien zeigen.
Unzumutbare Zustände
Ende Oktober erschien ein Kassensturzbeitrag, der grosse Probleme in der UPD (Universitäre Psychiatrische Dienste Bern) aufzeigt. Die UPD ist eines der renommiertesten Psychiatriespitäler der Schweiz und deckt an verschiedenen Standorten im Kanton Bern psychiatrische Hilfe in vielen Bereichen ab. Sie agiert als Aktiengesellschaft mit Leistungsauftrag des Kantons und soll die psychiatrische Grundversorgung von Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen sicherstellen.
Im Beitrag des Kassensturzes erzählen eine Pflegefachfrau und eine Patientin der Erwachsenenpsychiatrie von den unzumutbaren Zuständen in der UPD. Der Beitrag greift einen offenen Brief des Pflegepersonals an die Geschäftsleitung auf. Darin schreibt das Pflegepersonal: «Wir haben Angst davor, unsere grundlegenden ärztlichen Verpflichtungen und Aufgaben nicht erfüllen zu können. Wir haben Angst, die elementare Sicherheit und adäquate Therapie unserer Patientinnen und Patienten nicht mehr gewährleisten zu können. Wir haben Angst um unsere eigene körperliche Unversehrtheit und um die psychische Gesundheit unserer Mitarbeitenden». Das Schreiben folgt auf eine Ausnahmesituation, in welcher ein ehemaliger Patient mit einer Axt in das Gebäude gelangte und Menschen angriff. Aufgrund des grossen Einsatzes des Personals wurde niemand verletzt. Die Leitung der UPD reagiert auf die Vorwürfe unter anderem mit einer internen Mail, in welcher das Schaffen von 17 neuen Stellen, eine externen Untersuchung und eine interne Meldestelle angekündigt werden. Im Mail an die Mitarbeitenden steht: «Gerade der Fachkräftemangel macht uns zu schaffen (…)». Um die Situation für die Mitarbeitenden so gut wie möglich zu gestalten, sei die UPD weiterhin auf die tatkräftige Unterstützung des Personals angewiesen.
Von Zwangsmassnahmen und Selbsthilfe
«Ich weiss, dass das Pflegepersonal keine Schuld daran hat. Ich weiss, dass das Problem weiter oben liegt», sagt uns eine Patientin auf die Frage, ob das Fachpersonal genug Zeit für sie gehabt habe. Eine andere Person äussert sich dazu wie folgt: «Ich finde, sie haben sich grosse Mühe gegeben, auch wenn sie manchmal zu wenige waren». Aufgrund des Personalmangels habe auch ihre Bezugsperson, also die Ansprechperson, häufig gewechselt. «Ich habe Verständnis, weil ich weiss in welcher Situation das Pflegepersonal ist, aber mühsam ist es». Im offenen Brief der Pflegefachpersonen steht, dass deeskalative Präventionsmassnahmen aufgrund von Personalknappheit nicht mehr ausgeführt werden können. Vor diesem Hintergrund sei eine Zunahme von vermeidbaren Zwangsmassnahmen (Isolation, Zwangsmedikation oder Fixierung) zu befürchten. Die von uns interviewte Pflegerin äusserte, dass sie es als sehr belastend empfand, Patient*innen zu fixieren oder ihnen gegen ihren Willen Medikamente zu spritzen. Und eine Patientin sagt: «Der schlimmste Moment in der Psychiatrie war, als ich das erste Mal fixiert wurde». Die Gesetzgebung zu solchen Zwangsmassnahmen hat sich in den letzten zehn Jahren geändert; so darf heute nur die Bewegungsfreiheit von Personen eingeschränkt werden, wenn weniger einschneidende Massnahmen nicht ausreichen oder im Vorfeld als ungenügend eingestuft wurden. Die Massnahme muss zudem darauf abzielen, eine ernsthafte Gefahr für das Leben oder die körperliche Integrität der betroffenen Person oder Dritter abzuwenden. In erster Linie sollen die betroffenen Personen geschützt werden. Trotzdem stellen Zwangsmassnahmen einen Eingriff in die Grundrechte von Patient*innen dar. Es liegen allerdings schweizweit zur Zeit keine Daten oder Statistiken zur Häufigkeit solcher Massnahmen vor.
Wenn das Personal keine Ressourcen hat für Patient*innen zu sorgen, helfen sich diese oftmals untereinander aus. «Am meisten haben mir die andere Patient*innen geholfen, die auch da waren». Diese Aussage hören wir öfters in den Interviews mit Patient*innen. «Wir haben uns zum Teil gegenseitig aus dem Bett geholt, um etwas zu unternehmen», sagt eine Person. Die Betroffenen geben sich gegenseitig Kraft und Mut, denn von niemandem fühlen sie sich so gut verstanden, wie von denen, die dasselbe durchmachen. Dieses Gefühl des Zusammenhalts ist auch das Ziel der Recovery-Gruppentherapie. Recovery ist eine Bewegung die aus der Betroffenheit von psychischen Krankheiten entstanden ist . Die gegenseitige Unterstützung und das Zuhören ist der Mittelpunkt dieser Bewegung: «Wir haben auch etwas zu sagen in der Psychiatrie. Wir wollen gehört und anerkannt werden. Als chronisch kranke Person fühlen wir uns nicht verloren und haben nicht aufgegeben. Wir können uns selbst unterstützen und gegenseitig helfen». Diese Haltung ist vielen Patient*innen in Psychiatrien wichtig, um ihre Selbstbestimmung auch als kranke Person wahren zu können und ernst genommen zu werden. Auch wenn selbstorganisierte Selbsthilfe eine Bewegung hin zu Veränderung in der Psychiatrie darstellt, bleibt die Dringlichkeit einer strukturellen Veränderung bestehen.
Zu wenig Plätze
Das Notfallzentrum der Kinder- und Jugendpsychiatrie (NZKJP) an der UPD ist die kantonsweite Anlaufstelle für Kinder und Jugendliche in psychiatrischen Notfallsituationen und bietet unter anderem stationäre Kurzaufenthalte für Betroffenen an. Mitte November kam es zum Aufnahmestopp, die Station musste 48 Stunden schliessen. Seit Wochen laufe das NZKJP aufgrund des ungebrochen hohen Patientenaufkommen am Limit. Aufgrund der engen Platzverhältnisse sei es zu mehreren kritischen Situationen und letztlich gefährlichen Momenten für Patienten und Personal gekommen, heisst es in einem Mail an die Mitarbeitenden. Diese Überlastung zeigt sich auch auf den anderen Stationen der Kinder und Jungendpsychiatrie, für welche Jugendliche teilweise monatelang auf einen Platz warten. Dies führt wiederum dazu, dass ein hoher Druck besteht, die hospitalisierten Menschen möglichst schnell wieder zu entlassen. Vorzeitige Entlassungen wirken sich allerdings kontraproduktiv auf einen langfristigen Therapieerfolg aus. Zu früh entlassene Patient*innen laufen Gefahr, später erneut psychiatrische Dienste in Anspruch nehmen zu müssen. «Ich hatte immer das Gefühl, dass es nur eine Symptombekämpfung und ein Zurückrängen in dieses kranke System ist», sagt uns eine Patientin. Sie fühle sich zurückgedrängt in das, was sie krank gemacht hatte. Eine überlastete Psychiatrie produziert damit zukünftigen Druck auf sich selbst.
Die Daten einer neuen Analyse des Bundesamtes für Statistik, die sich mit der Behandlung von psychischen Störungen bei jungen Menschen in den Jahren 2020 und 2021 befasst, zeigen eine Zunahme von Hospitalisierungen aufgrund von psychischen Störungen bei über 24-Jährigen um insgesamt 1%. Bei Menschen zwischen 10 und 24 Jahren wird allein schon im Jahr 2021 eine Zunahme von 17% erfasst. Psychische Störungen sind damit in dieser Altersgruppe, vor Verletzungen durch Unfälle, der häufigste Grund für eine Hospitalisierung. Junge Frauen sind dabei stärker betroffen als Männer des gleichen Alters und machen 60% der hospitalisierten Personen aus. Das liegt nicht daran, dass weniger Männer betroffen sind, sondern am Männlichkeitsbild unserer Gesellschaft, nach welchem das Sprechen über Gefühle oder gar das Hilfeholen als Schwäche ausgelegt wird.
Was nun?
Die Zahl der Hospitalisierungen aufgrund psychischer Störungen sind alarmierend. Gerade in Anbetracht der prekären Lage in den Psychiatrien, die sich in den Pandemiejahren verschärft hat. Die Psychiatrie ist in einer Notlage, die es dringend aufzuheben gilt. Es braucht Veränderungen – für Patient*innen und für das Pflegepersonal. Es braucht eine Entstigmatisierung psychischer Störungen innerhalb der Gesellschaft, was unter anderem Aufklärungsarbeit zu psychischer Gesundheit und ein kritisches Hinterfragen von Rollenbildern erfordert. Es braucht ausreichend finanzielle Ressourcen, Arbeitskräfte, Ausbildung und den politischen Willen für diese Veränderung. Nur so kann die Psychiatrie ein Ort sein, an dem das Wohlbefinden und die Selbstbestimmung von Patient*innen im Vordergrund steht.