Schule schafft Kategorien, operiert mit Ein- und Ausschluss von Menschen, ordnet Menschen in Leistungsstufen. Schule soll aber auch ermöglichen, aufweichen, vorwärtsbringen. Seit die allgemeine Schulpflicht im Jahr 1874 in der Bundesverfassung verankert wurde, wird darüber diskutiert, wer die Schule in «normalen» Klassen besuchen darf und wer nicht. Seit jeher produziert Schule also neben Qualifikationen und Kompetenzen auch schulische Behinderungen – denn wer nicht mitkommt, dem Lehrplan nicht gewachsen ist. Wer sich nicht mit den Lehrpersonen versteht oder Grenzen ausloten muss, für den*die wird auch heute noch ein Platz ausserhalb der Regelklasse und teilweise ausserhalb der Regelschule gefunden. Einen aktuellen Beitrag zu dieser jahrzehntelangen Diskussion leisteten kürzlich Lehrpersonen im Kanton Basel-Stadt, als sie eine Initiative zur Wiedereinführung der sogenannten «Kleinklasse» oder «Förderklasse» lancierten. Dies, weil die Lehrpersonen im integrativen Basler Schulsystem schlicht überfordert seien. Gegenstimmen wehren sich gegen die Wiedereinführung und fordern eine Bereitschaft auf Seiten der Lehrpersonen, sich weiterzuentwickeln und weiterzubilden, um ein Miteinander in heterogenen Klassen gestalten zu können.
Globale Normen – fehlende Umsetzung
Mit der Ratifizierung der UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK) im Jahr 2014 verpflichtete sich die Schweiz zu einer Schule für alle. So wird im Artikel 24 der Konvention geschrieben, dass Menschen mit Behinderungen ein Anrecht auf ein integratives Bildungssystem auf allen Ebenen und lebenslanges Lernen hätten. Sie dürfen – so die Konvention – nicht aufgrund von Behinderungen vom allgemeinen Bildungssystem oder vom Besuch weiterführender Schulen ausgeschlossen werden. Das Fakultativprotokoll, welches Einzelklagen – beispielsweise von Eltern – zuliesse, hat die Schweiz zwar verabschiedet aber bis heute nicht ratifiziert.
Ende März dieses Jahres erhielt die Schweiz Post vom UNO-Ausschuss für die Rechte von Menschen mit Behinderungen. Dieser stellt der Schweiz ein schlechtes Zeugnis für die Implementierung der UN-BRK aus: Es fehlt eine umfassende Strategie auf Bundesebene und die Umsetzung der Konvention ist in vielen Lebensbereichen von Menschen mit Behinderungen mangelhaft. Fast die Hälfte aller Schüler*innen mit verstärktem Unterstützungsbedarf werden – so der Ausschuss – von der Regelschule ausgeschlossen. Auf allen Bildungsstufen erfahren Menschen mit Behinderungen in der Schweiz nach wie vor schwere Benachteiligungen. Im Alltag der Berner Schulen macht sich die UN-BRK kaum bemerkbar. Obwohl heute mehr Kinder in die Regelklassen integriert werden als noch vor 20 Jahren, werden weiterhin viele Lernende ausgesondert und in Klassen für besondere Förderung (KbF, im Kt. BE neuer Name für Kleinklassen/Sonderklassen) oder Sonderschulen unterrichtet. KbF sind kleinere Klassen, meist im selben Gebäude wie die Regelklassen. Gedacht sind sie für Schüler*innen mit sogenannt leichteren Beeinträchtigungen. KbF-Schüler*innen erhalten am Ende ihrer Schulzeit zwar einen regulären Schulabschluss, entwickeln sich aber leistungsmässig schlechter und haben schlechtere Chancen auf eine Berufsausbildung als vergleichbare andere Lernende in Regelklassen, wie Studien zeigen Sonderschüler*innen mit so genannt schwereren Beeinträchtigungen befinden sich selten im selben Schulhaus wie die Regelklassen und bekommen keinen regulären Schulabschluss. In den meisten Fällen haben sie eine diagnostizierte kognitive Behinderung. Eltern können eine Integration der Sonderschüler*innen in die Regelschulen beantragen – doch bloss ein Fünftel der Sonderschüler*innen im Kanton Bern besucht die Schule «integriert».
Ein klein wenig Veränderung erfahren Berner Sonderschüler*innen im Sommer 2022: Sie heissen neu «besondere Volksschüler*innen» und sind ab August – wie die Regelschüler*innen auch – der Bildungs- und Kulturdirektion (BKD) unter Christine Häsler unterstellt. Trotz neuem Namen und Eingliederung auf Organisationsebene will Häsler keine Zunahme schulischer Integration, wie sie im Juni zum wiederholten Mal im «Bund» kundtut. Sie hält an der Separation von «besonderen Volksschüler*innen» in «besonderen Volksschulen» fest, baut diese Schulen gar aus. In den letzten Jahren wurden immer wieder neue Sonderschulklassen eröffnet: 2018/2019 waren es 9, 2019/2020 gar 17. Im Kanton Bern bleibt grosso modo alles beim Alten – auch acht Jahre nach der Ratifizierung der UN-BRK.
Gute Schulen für Alle
Für Caroline Sahli Lozano erschwert der Ausbau separativer Strukturen die geforderten Entwicklungen hin zur Inklusion. Sie leitet das Forschungs-Schwerpunktprogramm «inklusive Bildung» an der PHBern, das zum Ziel hat, Schulen zu «guten Schulen für alle» weiterzuentwickeln. Im Unterschied zu anderen Forschungsprogrammen, die sich mit inklusiver Bildung beschäftigen, bezieht das Programm der PHBern unterschiedliche Dimensionen von Ungleichheit, wie z.B. natio-ethno-kulturelle Herkunft, Gender/Geschlecht oder Wohnort mit ein. Auch der Einfluss der sozialen Herkunft sei stark überschneidend mit der sogenannten Behinderungsdimension, sagt Sahli Lozano.
Diese Überschneidungen zwischen den verschiedenen Ungleichheitsdimensionen werden auch in den kantonalen Bildungsstatistiken des Kantons Bern für das Schuljahr 2020/2021 sichtbar. Einige Zahlen machen stutzig. Wieso sind 45 Prozent der Schüler*innen in «Klassen zur besonderen Förderung» Ausländer*innen, wo doch der Ausländer*innenanteil in Berner Schulen bei 19% liegt? Wieso sind 63% der Schüler*innen in diesen Klassen männlich? Wieso finden sich ähnliche Zahlen im Sonderschulbereich? Der ist eigentlich für Kinder und Jugendliche mit einer Diagnose, die ihnen eine Behinderung zuschreibt, angedacht. Hier sind es 34% Ausländer*innen und 66% Knaben. Sind überproportional viele Ausländer*innen und Jungs behindert?
Für diese Überrepräsentation gebe es verschiedene Erklärungsansätze, meint Sahli Lozano. Einige verorten die Ursache bei den Schüler*innen oder den Familien, andere im Schulsystem oder in den gesamtgesellschaftlichen Reproduktionsmechanismen. Aus der Inklusionsperspektive heraus sei sowieso nicht das Kind, sondern die Schule behindert. Behindert, wenn sie es nicht schafft, alle Lernenden des Einzugsgebietes ihren Bedürfnissen und Interessen entsprechend zu fördern. Oft sei es aber so, sagt Sahli Lozano, dass, wenn Lehrpersonen oder die Schule mit Schüler*innen überfordert sind, nicht geschaut wird, was die Schule als System tun kann. Stattdessen werde nach Orten gesucht, wo die Schüler*innen «hingetan» werden können. Gerade Schüler*innen aus sozial benachteiligten Schichten – und hier gibt es Überlappungen mit Migrationsgeschichten – haben häufig einen schwierigen Schuleinstieg und werden separiert, sagt Sahli Lozano. «Weil bei uns immer schnell die Schüler*innen und nicht die Schulen behindert sind.», meint sie.
Mittelstands-Förderung
Für Schüler*innen aus so genannt bildungsnahen Elternhäusern ist die Schule dagegen eher bereit, Anpassungen am Inhalt und den Rahmenbedingungen vorzunehmen. «Leider werden unsere Hypothesen bestätigt», sagt Sahli Lozano. Sie untersuchte die Anwendung sogenannter Nachteilsausgleiche (NAG) im Unterricht gemeinsam mit dem Institut für Erziehungswissenschaft der Universität Bern. Nachteilsausgleiche werden angewendet, wenn Schüler*innen, von denen erwartet wird, dass sie reguläre bis gute Leistungen erbringen können, eine begründete Benachteiligung erfahren. Eine Benachteiligung zum Beispiel wegen einer Dyskalkulie (Rechenschwäche), einer Lese-Rechtschreibschwäche, einer Diagnose im Bereich Autismus oder bei nicht-Beherrschung der Unterrichtssprache. Ein NAG kann bedeuten, dass die Schüler*innen mehr Zeit für Prüfungen zur Verfügung haben oder zusätzliche Hilfsmittel verwenden dürfen. Im Zeugnis wird von diesen Ausgleichsmassnahmen nichts vermerkt, die stigmatisierende Wirkung ist also gering.
Sahli Lozanos Untersuchung zeigt: Nachteilsausgleiche werden vor allem von sogenannt bildungsnahen Schichten, von Kindern akademisch gebildeter Eltern, in Anspruch genommen. Sie hält fest, dass es problematisch sei, «dass Lernende aus sozial benachteiligten Familien durch die Separation zusätzlich benachteiligt werden, während Lernende aus sogenannt privilegierten Familien stärker von nachteilsausgleichenden Massnahmen profitieren».
Schulische Förderung, so wird deutlich, ist ungleich verteilt und ungleich gestaltet.
Und es scheint, dass die Verteilung nicht nur nach konkretem Bedarf, sondern auch von der sozialen Herkunft der Schüler*innen bestimmt wird. Auch bald zehn Jahre nach der Ratifizierung der UN-BRK ist es noch ein weiter Weg zur «guten Schule für alle», wie sie Caroline Sahli Lozano erreichen will.
Wie würde sie auf diesem Weg weiter vorgehen? Wenn Sahli Lozano Königin wäre, dann würde sie die Aufteilung in Leistungsniveaus – die Selektion – in den Schulen abschaffen. Diese stehe ihrer Meinung nach quer in der Landschaft zur Integration oder Inklusion. Denn dabei wirken dieselben Aussonderungsmechanismen wie im Sonderschulbereich. Auch hier bestimmen sozialer Hintergrund, Geschlecht und Herkunft mit, in welcher Form Schüler*innen unterrichtet werden. Längerfristig fordert Sahli Lozano von der Schweiz und den Kantonen, dass diese die UN-BRK endlich ernst nehmen und Entwicklungen hin zur Inklusion unterstützen. Beispielsweise durch den Abbau von Sonderklassen sowie durch das Schaffen von guten Rahmenbedingungen für die Integration.