Selbstbezug in der Linken Text: Fred Gotthard | Bild: daf

Der Suppe entsteigen

Eine Runde erfolgreich um sich selbst gedreht: Die ausserparlamentarische Linke beschäftigt sich zunehmend mit sich selbst. Der politische Anspruch ans eigene Handeln und das nächste soziale Umfeld ist hoch. Die Auseinandersetzung mit anderen Milieus der Gesellschaft verliert jedoch an Bedeutung.

Bekanntlich hat die ausserparlamentarische Linke einen dezidiert politischen Anspruch. Trotzdem ist sie nicht gefeit vor Individualisierung, Besserwisserei und dem Rückzug ins Private. Das kann zur Folge haben, sich politisch und gesellschaftlich auszuklinken. Eng zusammenhängend sind hier die subjektiven Sichtweisen auf die Gesellschaft: Scheint es hoffnungslos oder unmöglich, in den dominierenden Machtverhältnissen relevanten Einfluss zu nehmen, scheint der Versuch logisch, wenigstens im eigenen Umfeld die schöne, reine Welt zu verwirklichen. Statt die breite Gesellschaft zu konfrontieren, finden Analysen und daraus abgeleitete Methoden für andere Formen des Zusammenlebens verstärkt in den eigenen Kreisen Anwendung.

Selbstbezug

Zum Beispiel wenden Aktivist*innen das gewonnene Wissen über die globale Vormachtstellung des oft weissen cis-Mannes und Diskriminierungsformen verstärkt auf das eigene Milieu an. In Workshops, Diskussionen und im Alltag vertiefen sie den Diskurs. Die soziale Kontrolle in den eigenen Reihen wird schärfer: Sprache, Verhalten und die Identität des Individuums werden politisiert bzw. die politischen Dimensionen aufgedeckt. Neue soziale Normen etablieren sich: Wo früher Sprüche und Witze auf Kosten anderer, meist nicht-privilegierter Menschen geduldet waren, gilt heute eine weniger hohe Toleranzschwelle. An sich ein begrüssenswerter Prozess: Die Entwicklung hin zu einem bewussteren und kritischeren Umgang und das Reflektieren der eigenen Rolle im sozialen Gefüge. Auf dem Weg zu einer gesamtgesellschaftlichen Veränderung sind Prozesse wie diese essentiell. Wandeln sie sich hingegen zum Selbstzweck, verlieren sie ihre Wirkungskraft. Wird das korrekte Einhalten (in-)formeller Verhaltensregeln zur ersten Priorität, können Inhalte an Bedeutung verlieren. Wenn es wichtiger ist, wer wie in einer Diskussion spricht, als was er oder sie inhaltlich fordert, verschiebt sich der Fokus der Beteiligten. Am Ende der Diskussion stehen persönliches Wohlbefinden, die Einhaltung von Handzeichen, das abwechselnde Sprechen verschiedener Geschlechter, etc. im Zentrum. Das eigentliche Diskussionsthema droht, auf dem Abstellgleis zu landen.

Scheingefechte

Bei derartigen Diskursen sticht mehr als ein blinder Fleck ins Auge. Was bringt es, sich innerhalb der linken Subkultur allen Rassismus, Sexismus, oder Ableismus1 austreiben zu wollen, wenn in der gemeinsamen Lebenswelt kaum Menschen mit expliziten Rassismuserfahrungen oder Behinderungen aktiv sind – und die Gründe dafür zudem unerforscht bleiben? Was bringt es uns, wenn wir bei einer nicht angemessenen Bemerkung mit Ausschluss gestraft werden, statt in einer Diskussion die Problematik gewisser Aussagen auf Augenhöhe anzusprechen? Was ist die Sache wert, wenn sie innerhalb der eigenen Kreise hängen bleibt? Dient die Norm uns, oder dienen wir der Norm? Es stellt sich die Frage, inwiefern es sich bei solchen Debatten um narzisstische Scheingefechte handelt, die primär der Versicherung der moralischen Überlegenheit des eigenen Milieus dienen. Erst recht in einer Gesellschaft, die mehr als einmal für moralisch bankrott erklärt wurde. Dabei drohen Ursachen und Wechselwirkungen von sozialer Ungleichheit in der Gesellschaft wie auch im spezifischen Milieu links liegen gelassen zu werden: Diskriminierung entsteht oft aufgrund mangelnder Bildung und Auseinandersetzung mit Menschen, die anders sind, als man selbst. (Höhere) Bildung ist wiederum mehrheitlich wohlhabenderen Teilen der Gesellschaft vorbehalten. Während man sich in der linken Subkultur stärker gegenseitig auf die Finger schaut, wie gesprochen und gehandelt wird, bleibt die Basis für diesen homogenisierenden Diskurs (z.B. Milieu, Hintergrund der Eltern, ökonomische Situation) weitgehend unbeachtet. Zugespitzt ausgedrückt: Sozio- ökonomische Fakten werden von den Bessergestellten gerne ausgeblendet – dabei ermöglichen erst jene einen Diskurs auf Flughöhe. Da sich in der Tendenz die gesellschaftlichen Schichten kaum vermischen, sondern sich voneinander abgrenzen, müssten bewusste Schritte in andere Kreise getan werden.

Privilegien

Wenn weisse, studierende, junge Erwachsene mit Schweizerpass und ordentlich Franken auf ihrem Konto – und, pointiert, mit Eltern, die über Ferienhäuser im Berner Oberland verfügen –, Wenigerprivilegierte (un)bewusst ausschliessen oder auf sie herabsehen, ist das arrogant und besserwisserisch. Wer nicht bereit ist, das eigene Statusprivileg transparent zu machen, zu reflektieren oder sogar aufzugeben, blendet im Diskurs wichtige Machtverhältnisse aus. Am Ende wird sich kaum etwas verändern: Gesellschaftliche Relevanz erhalten Debatten erst dann, wenn sie aus dem eigenen Milieu wieder in die Gesellschaft hineingetragen werden – und aus der Gesellschaft wieder in die verschiedenen Milieus.

Unwissenheit schützt vor Ausschluss nicht

Wer bisher wenig oder gar nicht mit Diskursen um die vielfältigen linken Philosophien (inhaltlich), gendergerechte Sprache, Awareness, Reflexion (methodisch) etc. in Berührung gekommen ist, ahnt nicht, wie viele Fettnäpfchen um ihn oder sie herumstehen. Ich kann und darf nicht von mir einseitig auf andere schliessen und muss Meinungen und Äusserungen zulassen, auch wenn sie mir und meiner Sicht auf die Welt widersprechen. Wende ich mich bei der ersten vereinfachten Bemerkung meines Gegenübers ab, wird das Gespräch eher zur Spaltung als zur Annäherung beitragen. Das Um-sichselber- drehen kann die Gräben zu anderen gesellschaftlichen Milieus vertiefen. Wollen wir gesellschaftsfähig werden, müssen wir unserer Suppe entsteigen und über den Tellerrand blicken. Wissen soll geteilt, nicht vorenthalten werden. Die Gesellschaft hat Verbindendes und Einendes nötig, nicht mehr Abgrenzung. Hierfür braucht es sozial und politisch engagierte Menschen, die ihre Überzeugungen und Wünsche aktiv und emphatisch in die manchmal unbequeme Welt hinaustragen.