Vor ein paar Wochen hat Emran einen B Ausweis zugeschickt bekommen. Es ist eine Art Identitätskarte, in der biometrische Daten² von Emran enthalten sind. Der B Ausweis bedeutet für Emran einen sichereren Aufenthalt in der Schweiz. Zumindest sicherer als der Ausweis F, vorläufig aufgenommen, der ihm keinen permanenten Aufenthalt in der Schweiz gewährleistete. Emran hat den B Ausweis aber vor allem deshalb beantragt, weil der Ausweis ihm die Aussicht gibt, ausreisen zu dürfen. Dies ist für Emran unabdingbar, um seine Familie wiedersehen zu können. Ein Wunsch, der Emran beschäftigt, seit er in der Schweiz lebt. Für Emran ist es deshalb eine Errungenschaft, als er die Post öffnet und die kleine Karte darin herausnimmt. «Meine Freiheit wächst hier nur sehr langsam», sagt er. Fünf Jahre lang konnte er nun das Land nicht verlassen, zu Beginn nicht einmal den Kanton.
Der Weg zum B Ausweis bedeutete für Emran, auf eine Lehrstelle zu verzichten. Um den Ausweis, für den Emran sich mindestens fünf Jahre in der Schweiz aufgehalten haben muss, beantragen zu können, musste Emran nämlich ein Jahr unabhängig vom Sozialamt leben. Mit einer Lehrstelle hätte Emran niemals genug verdient. Emran konnte nicht sogleich eine Lehrstelle beginnen, zuerst besuchte Emran die Schule, danach erhielt er eine Vorlehre, eigentlich eine gute Vorausbildung, jedoch zieht sich dadurch alles in die Länge. Hätte Emran die Lehre abgeschlossen, hielte er nun den B Ausweis nicht in der Hand. Emran hat viel gearbeitet im letzten Jahr. Verdient hat er nicht gut.
Es nimmt kein Ende
Im vorletzten Jahr haben die Taliban in seinem Herkunftsland Afghanistan die Macht ergriffen. Für Emran bedeutet das mehr Angst um die Familie und einen weiteren Grund, Afghanistan nicht zu besuchen. Seit der neuen Regierung ist ausserdem die afghanische Botschaft in der Schweiz geschlossen, sie stellt folglich keine Pässe aus, einzig ein Schreiben, in welchem erklärt wird, dass ein Pass im Moment nicht erhältlich ist. Ohne Pass, das weiss Emran, ist es nicht möglich zu reisen. Der B Ausweis alleine reicht als Reisedokument nicht aus. Damit rückt eine Zusammenkunft mit Emran’s Familie in einem benachbarten Land von Afghanistan weiter in die Ferne. Emran weiss jedoch von einem Reisepass für Staaten- und Schriftenlose.
Der grüne Reisepass ist für Staaten- und Schriftenlose Personen mit B Ausweis vorgesehen. In der «Verordnung über die Ausstellung von Reisedokumenten für ausländische Personen», die auf der Website des SEM einzusehen ist, heisst es: «Ein Pass für eine ausländische Person kann abgegeben werden:
«Einer schriftenlosen ausländischen Person mit Aufenthaltsbewilligung oder mit einer nach Artikel 17 Absatz 1 der Gaststaatverordnung vom 7. Dezember 2007 erteilten Legitimationskarte. […]»
Als schriftenlos gelte dabei eine Person, welche keine gültigen Reisedokumente ihres Heimat- oder Herkunftslandes besitzt, weil von ihr nicht verlangt werden könne, dass sie bei den Behörden jenes Landes Reisedokumente beantrage oder für die es grundsätzlich nicht möglich sei, Reisedokumente zu beschaffen.
Schriftenlos oder nicht?
Emran beantragt den Reisepass. Auf dem Migrationsamt erfährt er jedoch, dass Reisepässe in der Regel nicht an afghanische Staatsangehörige ausgestellt würden. Das SEM lehne die Gesuche ab. «Sie können es versuchen, aber ich möchte Ihnen keine grossen Hoffnungen machen.» Emran versucht es dennoch. Er füllt ein Formular aus und zahlt zwanzig Franken. Der Antrag wird vom Migrationsamt an das SEM weitergereicht.
Einige Tage später erhält Emran wieder Post. Diesmal enthält sie die bereits erwartete Enttäuschung: «Reisepässe werden aufgrund von technischen oder organisatorischen Verzögerungen nicht ausgestellt.» Emran ist irritiert, er versteht nicht, warum er kein Anrecht auf die Reisedokumente hat. Offensichtlich hat er keine Möglichkeit einen afghanischen Pass zu beantragen. Emran wäre in diesem Sinne also schriftenlos. Er googelt, aber findet keine Antworten, denn das SEM kommuniziert seine Entscheidung, die Gesuche für Reisepässe von afghanischen Staatsangehörigen abzulehnen, nicht öffentlich. Auf dem Internet sind dazu kaum Informationen zu finden. So werden die Anträge auf dem Migrationsamt jeweils aufs neue erklärend abgelehnt, da niemand darauf vorbereitet ist, eine Absage zu erhalten. Das Schreiben, das Emran in der Hand hält, bietet zwar die Möglichkeit eine Beschwerde beim Bundesverwaltungsgericht einzureichen, aber diese kostet 150.- und Emran hält eine Beschwerde nicht für besonders vielversprechend. Also landet der Zettel im Altpapier.
Am 15. Dezember 2021 hat Mustafa Atici, Nationalrat für die SP und Präsident der Migrant*innen Schweiz, beim Bundesrat eine Interpellation³ eingereicht. Die Interpellation fragte dabei nach der Möglichkeit für afghanische Staatsangehörige ohne Pass, einen Reisepass zu erhalten. In seiner Antwort verwies der Bundesrat darauf, dass die Lage und somit auch die künftige Zusammenarbeit der Schweiz mit Afghanistan nicht abzuschätzen sei, weshalb nicht davon ausgegangen werden könne, dass in Zukunft auch keine Pässe ausgestellt würden. Diese Stellungnahme ist ein Jahr her. Seither wurden keine Pässe ausgestellt. Weiter weist der Bundesrat daraufhin, dass afghanische Staatsangehörige ohne Pass weder schriftenlos noch staatenlos seien.
Eine Definition der Behörden
Auf genaue Nachfrage per Mail, warum afghanische Staatsangehörige ohne Pass nicht als schriftenlos gelten, verweist das SEM wiederum auf «technische und organisatorische Verzögerungen». Das SEM erläutert nach einer konkretisierten Nachfrage einige Beispiele für technische oder organisatorische Verzögerungen (fehlende biometrische Erfassungsstationen, organisatorische Unklarheiten, etwa bei Zuständigkeitsfragen innerhalb der Behörden), welche jeweils mit dem Zusatz «vorübergehend» versehen sind. Dennoch gibt es laut SEM keinen maximalen Zeitraum, in dem etwas als technische oder organisatorische Verzögerung gelten kann. Hierbei drängt sich die Frage auf, warum technische und organisatorische Verzögerungen bei der Passausstellung nicht ausreichen, um als schriftenlos zu gelten. Zumindest wenn sich die Situation über einen unbestimmten Zeitraum hinziehen kann. Abgesehen von anerkannten Geflüchteten und Staatenlosen, führt das SEM weiter aus, sei höchst vorsichtig mit der Gewährung von Reisedokumenten umzugehen. Dies greife in die Passhoheit anderer Staaten ein. Im Übrigen sei die Identität von Personen, welche ein Gesuch für die Anerkennung als schriftenlos stellten, selten lückenlos gewährleistet. Würden solchen Personen dennoch Dokumente zugestellt, könne dies «dem Ruf der Schweiz» schaden. Diese Aussage lässt jedoch die Angabe des SEM infrage stellen, dass der Grund, weshalb afghanischen Staatsangehörigen keine Reisedokumente von der Schweiz gewährt werden, technische und organisatorische Verzögerungen bei der afghanischen Passausstellung sind. Zumindest lässt es die Definition der beiden Begriffe «technisch» und «organisatorisch» anzweifeln, die an dieser Stelle eher als Vorwand daherkommen. Was auch immer es bedeutet, dass eine Identität nicht lückenlos gewährleistet ist: Diese Aussage stellt Personen wie Emran vor ein Problem. Sie erhalten weder von ihrem Aufenthaltsland noch von ihrem Herkunftsland Reisedokumente, und haben folglich keine Bewegungsfreiheit. Laut der Antwort des SEM handelt es sich hierbei um eine Mehrheit der Personen, die einen Antrag zur Schriftenlosigkeit stellen.
Emran steht im Moment vor dem Ungewissen. Möglicherweise wird diese Situation noch lange andauern und noch lange von Bundesrat und SEM als nicht einschätzbar, beziehungsweise als technische oder organisatorische Verzögerung eingestuft. Emran bleibt nicht viel anderes übrig, als zu warten. Diesen Winter wollte er sich nach fünf Jahren wieder mit seiner Mutter treffen.
1 Das Staatssekretariat für Migration (SEM) ist zuständig für die Einreise- und Aufenthaltsbewilligungen in der Schweiz.
2 Biometrische Daten dienen dazu, eine Person zu identifizieren. Als biometrische Daten gelten Angaben zu den physischen und physiologischen Merkmalen der Person. Dies können zum Beispiel Fingerabdrücke, die Körpergrösse, die Augenfarbe oder das Gesichtsbild sein.
3 Mit einer Interpellation können Mitglieder des National- oder Ständerats Fragen an den Bundesrat zu innen- oder aussenpolitischen Themen stellen, die durch den Bundesrat beantwortet werden müssen.