Man stelle sich vor: Beim Zürcher Fussball-Derby zwischen GC und dem FCZ eskaliert die Stimmung; es kommt zu Ausschreitungen. Die Spieler gehen aufeinander los. So auch schon vorgekommen im Schweizer Fussball. Doch man stelle sich weiter vor, der Bundesrat bestellte nach diesem Fussballmatch die beiden Trainer der Teams ein, um sie dann öffentlich zum Frieden aufzurufen. Undenkbar? Hierzulande schon. Genauso ist es in Schottland aber 2011 geschehen. Um das zu verstehen, müssen wir uns dem Begriff des Sektierertums und der Rolle des Fussballs in Glasgow annähern. Sektierertum bedeutet die Abwertung, Verspottung und Diskriminierung anderer Bevölkerungsgruppen bei gleichzeitiger Aufwertung der eigenen Gruppe. Im englischsprachigen Kontext in Großbritannien bezieht er sich in der Regel auf die komplizierte und von Diskriminierung, Misstrauen, Hass und Ungleichheit geprägte Beziehung zwischen Protestant*innen und Katholik*innen. Diese Konflikte sind eine Mischung aus verschiedenen sozialen und identitären Ebenen: Sozialer Klasse, Ethnie, Sprache, Konfession, etc. In Nordirland eskalierten diese Konflikte ab den 60er Jahren in einen blutigen Konflikt, in dem über 3`500 Menschen ums Leben kamen. In Schottland verlief dieser Konflikt weitaus weniger gewalttägig – doch gerade rund ums Glasgower Fussball-Derby eskalieren die Konflikte immer wieder. Der Match zwischen Celtic Glasgow und dem Glasgow Rangers FC – «The Old Firm» genannt – hat eine gesellschaftliche und politische Relevanz, die europaweit wohl unerreicht ist. Die beiden erfolgreichsten Teams der schottischen Liga haben beide eine weit zurückreichende Tradition und sind tief in der schottischen Gesellschaft verankert, wenn auch in zwei unterschiedlichen Communities. Die Ranger-Fans sind grossmehrheitlich protestantisch und pro-britisch; die Geschichte des Klubs ist vom Anti-Katholizismus geprägt. Die Celtic-Fans wiederum sind mehrheitlich katholisch, hängen einem Verein an, der 1888 von einem irischstämmigen Priester gegründet wurde, der das Leid der katholischen Migrant*innen in Schottland lindern und die katholische Community zusammenhalten wollte. Sie sind der britischen Regierung und der Monarchie gegenüber ablehnend bis feindlich gesinnt.
Geschichte des Konfessionalismus
Die schottische Gesellschaft wurde spätestens seit Anfang des 19. Jahrhundert stark von irischer Einwanderung geprägt. Im mehrheitlich protestantischen Schottland mussten die vor Armut, Unterdrückung und Hungersnöten fliehenden Ir*innen ihren Platz in der Gesellschaft finden, die sich im Zeitalter der Industrialisierung wie die ganze Welt im Umbruch befand. 1795 gab es in Glasgow nur fünfzig Katholik*innen. Im Jahr 1829 waren es 25.000 und im Jahr 1843 fast doppelt so viele. In Edinburgh gab es 1829 etwa 14.000 Katholiken*innen, während es dreißig Jahre zuvor nicht mehr als 1.000 waren. Neben den katholischen Ir*innen wanderten auch protestantische Menschen aus Ulster (in Teilen das heutige Nordirland) nach Schottland ein, die wiederum Nachfahren der ehemaligen Schottischen Auswanderer waren. Diese waren ab dem 17. Jahrhundert grossflächig nach Ulster gekommen bzw. von der Britischen Regierung umgesiedelt worden, was als «Great Plantation» bezeichnet wird. Damit sollte die Britische Herrschaft über Irland abgesichert werden. Im Schottland des 19. und 20. Jahrhundert nahmen die Ir*innen für Teile der Protestant*innen die Rolle des Sündenbocks ein. Im 19. Jahrhundert war der Glaube viel prägender und wichtiger für die Identität von Menschen und Gemeinschaften. So gab es eine tiefe Kluft zwischen den Konfessionen. Schulen waren oft nur für protestantische oder katholische Kinder. Diese Parallelgesellschaften beäugten sich kritisch – Austausch zwischen ihnen gab es kaum.
«The old Firm»
Das Fußballspiel zwischen den beiden Glasgower Vereinen Rangers und Celtic ist eines der ältesten nationalen Fußballspiele in Grossbritannien. Das erste Spiel wurde 1888 ausgetragen. Beide Vereine haben eine große Fangemeinde, die über die Landesgrenzen hinausreicht. Es besteht eine tief verwurzelte Rivalität, die über das Fußballspiel hinausgeht und politische Dimensionen hat. Der Rangers Football Club wurde im Jahr 1872 von einer Gruppe von Freunden aus der Arbeiterklasse gegründet. Er hat eine protestantische und unionistische (pro-britische) Identität, die er über die Jahre hinweg beibehalten hat. Aufgrund seines Erfolges wurde der Rangers FC schnell zu einem Symbol des dominanten und institutionellen schottisch-britischen Lebens. De facto gab es im Verein eine anti-katholische Politik, die bis in die 1980er Jahre beibehalten wurde. Beim Versuch, den Klub zu modernisieren und von dieser sektiererischen Haltung wegzukommen, verpflichtete der neue Manager Ende der 80er-Jahre demonstrativ einen katholischen Spieler, was in der eigenen Fangemeinde zu Aufruhr führte, der aber nie zu etwas Ernsthaftem eskalierte. Der Celtic Football Club wurde 1887 auf Initiative des irischen Maristenbruders Walfrid als Wohltätigkeitsorganisation gegründet, um die Armen und Hungernden in den Gemeinden des Glasgower East Ends zu versorgen, wo die meisten irischen Einwanderer lebten. Er hat daher eine starke irische und katholische Identität. Aufgrund seiner Rolle wurde Celtic zu einem Ort des kulturellen Austauschs der irischen Diaspora in Schottland.
Sektierertum im Fussball
Zu Beginn des 20. Jahrhunderts war das Sektierertum tief im Alltag der Glasgower*innen verwurzelt. Katholische und damit meist irischstämmige Menschen wurden diskriminiert. Die Rivalität im Rahmen des Old Firm, die auf diese Ungleichheit zurückgeht, war eine der Plattformen, die die gesellschaftliche Spaltung ins Bewusstsein des bürgerlichen Lebens rückten. Das Derby wurde daher politisch genutzt, um ethnische und religiöse Unterschiede auszutragen oder sogar zu schüren. Im Laufe der Jahre wurde die Rivalität zwischen Celtic Glasgow und den Rangers immer unabhängiger von ursprünglich konfessionellen und klassenspezifischen Motiven – sektiererische Gesänge und Symbole sind aber nach wie vor präsent. Seit den 1970er Jahren haben beide Vereine Maßnahmen ergriffen, um ihre Fans davon abzuhalten, sektiererische Symbole zu zeigen und Hassgesänge zu singen, aber relevante Teile beider Fanlager weigern sich noch, mitzumachen. Auch heute ziehen Old Firm-Spiele die Aufmerksamkeit auf sich, weil es zwischen den Fans zu sektiererischem Verhalten kommt. Teile der Medien sind eine wichtige Grösse in jener Auseinandersetzung: Sie übertragen Eskalationen und Spannungen am Old Firm auf die gesamte schottische Gesellschaft und machen das Sektierertum zu einem grösseren Problem, als es de facto ist. Nur, weil sich Fussballfans in der Kurve historischer und ethnischer Unterschiede bedienen, um ihre Feindseligkeit auszutragen, heisst das nicht, dass dieses Phänomen deswegen repräsentativ für ganz Schottland steht. Das Schottland besonders sektiererisch sei, ist für Steve Bruce keine haltbare These. Das einzige Gebiet, in dem es noch sektiererische Identitäten gibt, sei bei einer Minderheit von Rangers- und Celtic-Fans. Fußballrivalität ist laut Bruce eine eigenständige soziale Kraft, die nie auf die ganze Gesellschaft verallgemeinert werden sollte. Offensichtlich ist der Grund für Sektierertum (und Fremdenfeindlichkeit?) eine Mischung – oder eine Überschneidung – aus sozialer (Un-) Gleichheit, wachsendem Wettbewerb, Angst vor dem Verlust der eigenen sozialen Position auf der einen Seite und der Frage nach Identität und Zusammenhalt (die sich vor allem über die Religionszugehörigkeit artikulierte) auf der anderen Seite. Religion wird in der schottischen Gesellschaft aktuell immer unpopulärer; und auch die die soziale Spaltung nimmt ab, was dem Sektierertum den Boden entzieht. Gleichzeitig ist mit dem Brexit und der erstarkten schottischen National- und Unabhängigkeitsbewegung eine neue Konfliktlini e entstanden, die die gesellschaftliche Ordnung herausfordern wird.
Quellen:
Bruce, Steve, Glendinning, Tony and Rosie, Michael (2004): Sectarianism in Scotland, Edinburgh: Edinburgh University Press.
Bruce, Steve (The Guardian). Let’s lay this myth to rest. URL: https://www.theguardian.com/commentisfree/belief/2011/apr/24/scotland-sectarianism-research-data