megafon | Megafon (Auflage ca. 1000 Exemplare) vs. Tamedia (Auflage >1.3 Mio Exemplare)

9. Juli 2021

Megafon (Auflage ca. 1000 Exemplare) vs. Tamedia (Auflage >1.3 Mio Exemplare)

Auf unserem Twitteraccount veröffentlichten wir vergangenen Sonntag ein Meme, das hohe Wellen schlug. Es bezog sich auf die Verwendung verschiedener Hinrichtungsmetaphern durch die Tamedia-Journalistin Michèle Binswanger. Der Medienkonzern Tamedia kündigte daraufhin eine Strafanzeige gegen uns an. Im Folgenden unsere Stellungnahme zu den Ereignissen.

Der Ursprungstweet. Der Text im linken Bild lautete «He Michèle das stimmt gar nicht». Im rechten Bild haben wir den hereinmontierten Kopf nachträglich retouschiert.

Die Vorgeschichte

Die profilierte Tamedia-Journalistin Michèle Binswanger mag Metaphern. Auch solche, die mit dem Tod zu tun haben. So bezeichnete sie im vergangenen Jahr die entschiedene Kritik an der Influencerin Mirjam Jäger als «mediale Hinrichtung» ebendieser. Die Kritiker*innen der Schriftstellerin J.K. Rowling nannte sie einen «Mob», der «die Autorin auf dem virtuellen Scheiterhaufen brennen sehen» wolle. Und vergangenen Sonntag bemühte sie die morbide Sprache einmal mehr in einem Interview mit dem Journalisten Stefan Aust: «Der Vorwurf, rechts zu sein, kann ein gesellschaftliches Todesurteil sein.»

Diese sprachlichen Blüten bewegten unseren satirischen Flügel dazu, die Verwendung solcher Hinrichtungsmetaphern aufzugreifen und in die Form eines Twitter-Memes zu bringen. Dieses sollte die Sprachbilder gezielt überspitzen und verzerren. Und so aufzeigen, wie absurd es ist, wenn man harmlose Kritik zur metaphorischen Tötung umdeutet.

Das gelang nicht.

Auf unserem Twitteraccount veröffentlichten wir das Meme am Sonntagnachmittag. Es hatte die Form einer Gegenüberstellung: «Was der Rest der Welt sieht» vs. «Was Michèle sieht». Dazu zwei Bilder. Das Erste zeigte die harmlosen Kritik: «He Michèle das stimmt gar nicht». Das Zweite stellte die Hinrichtungsmetapher dar, in Form der Guillotinierung von Ludwig XVI während der französischen Revolution. Mit Binswangers Kopf anstelle des königlichen Hauptes.

Das mit Absicht drastisch gewählte Bild versagte jedoch schnell in seiner überspitzenden Funktion – zu leicht konnte es von seinem satirischen Kontext getrennt werden. Bereits nach wenigen Stunden wurde es zum Zentrum der Diskussion, da die Guillotinierung nicht mehr als Visualisierung der Hinrichtungsmetapher wahrgenommen wurde, sondern als eigenständige Abbildung ohne die im Begleittext erwähnte Bedeutung.

Das Bild löste somit Assoziationen zu Angriffen auf Journalist*innen aus und hatte das Potential, sich zu verselbstständigen. Damit war es ungeeignet, den satirischen Gehalt des Tweets zu transportieren. Wir erkannten den Fehler, löschten den Post am darauffolgenden Tag und entschuldigten uns bei Michèle Binswanger für das Bild.

Die Eskalation

Damit hätte die Sache erledigt und das Bild aus der Welt geschafft sein können.

Doch noch am selben Abend tat ein «20 Minuten»-Artikel das, was mit der Löschung des Bildes hätte verhindert werden sollen: Er entriss das Bild seinem satirischen Kontext und verbreitete es losgelöst vom Ursprungstweet weiter. Dank «20 Minuten» hatte es sich verselbstständigt.

Endgültig eskaliert wurde die Situation am darauffolgenden Dienstag von Tamedia-Chefredaktor Arthur Rutishauser. In einem seltsamen Kommentar zum Fall zog er eine direkte Linie von unserem Tweet zu den terroristischen Anschlägen auf die Redaktion des Satiremagazins «Charlie Hebdo».

Damals fühlten sich zwei religiöse Fanatiker berechtigt, wegen der Satire der Zeitschrift zwölf Menschen zu ermorden. Zu Recht pochten dann Medien aus der ganzen Welt auf die uneingeschränkte Satirefreiheit. Selbst wenn sich kriminelle Terrorist*innen zu Gewalttaten legitimiert fühlen: Satire muss ausgehalten werden. Auch wenn sie schlecht ist.

Nun, sechs Jahre später, stellt der Chefredaktor des zweitgrössten Medienkonzerns der Schweiz all das auf den Kopf: Weil unsere schlechte Satire seiner Meinung nach als Legitimation für Gewalt missbraucht werden könne, dürfe sie nicht sein – ja müsse gar bestraft werden. Er kündigte eine Strafanzeige wegen des längst gelöschten Tweets an.

«Je suis Charlie» derart falsch verstehen – das muss man erst mal nachmachen.

Die Verzerrung

Rutishauser warf in seinem Text aber nicht nur mit dieser Verdrehung der «Charlie Hebdo»-Debatte um sich. Er verschwieg (wie schon «20 Minuten» vor ihm) sogar gänzlich den satirischen Kontext unseres Ursprungstweets. Der gestandene Chefredaktor versuchte nicht einmal, seinen Leser*innen zu vermitteln, dass das Guillotinenbild Teil eines einschlägigen Meme-Formats war. Stattdessen tat er so, als wäre das Bild von uns ohne jeglichen Zusatz gepostet worden.

Das ist irreführend.

Diverse andere Medien taten es ihm gleich. Weder «nau.ch», noch «20 Minuten» oder «persönlich.com» hielten es (neben anderen) für nötig, den unmittelbaren Kontext des Bildes wiederzugeben. Die «Weltwoche» liess sich sogar zu der verleumderischen Behauptung hinreissen, wir hätten zur «Köpfung einer Journalistin» aufgerufen.

Als Leser*innen dieser Blätter würden wir uns schlecht informiert – nein – desinformiert vorkommen.

Zum Schluss seines Artikels übertrumpfte uns Arthur Rutishauser dann auch noch in Sachen Geschmacklosigkeit. In einem verharmlosenden Erguss verglich er unser Tun mit den Verbrechen des Nationalsozialismus. Wenige Stunden nach Veröffentlichung des Textes wurde die Passage kommentarlos entfernt.

Der Nazivergleich des Tamedia-Chefredaktors

Die Zukunft

Was bleibt zu sagen nach so einer Eskalation? Zum Beispiel Folgendes:

Der Strafanzeige des 935 Millionen schweren Medienkonzerns schauen wir mit Gelassenheit entgegen. Wir vertrauen darauf, dass die Satirefreiheit in der Schweiz auch für misslungene Werke gilt.

Arthur Rutishauser empfehlen wir, mal eine unserer Zeitungen zur Hand zu nehmen und unsere journalistischen Tätigkeiten zu studieren. Dann wird er uns auch nicht mehr mit einer «anonymen Onlineplattform» verwechseln oder unsere Redaktor*innen als «Aktivisten» bezeichnen.

Falls der Tamedia-Chefredaktor danach immer noch nicht glaubt, dass wir «jungen Leute» handwerklich in der selben Liga spielen wie er, legen wir ihm diesen Tweet vom 2. Mai 2021 wärmstens ans Herz.

Die Rechtsabteilung der Tamedia schliesslich können wir beruhigen. Der Nazivergleich von Rutishauser war zwar eklig und geschichtsvergessen, aber Fehler passieren halt manchmal, auch wenn das nicht alle zugeben können. Wir werden dazu keine Strafanzeige einreichen.

 

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