Interview mit Dominic Nellen, Rechtsanwalt bei der «Anwaltskanzlei Kiener & Nellen», zum Präzedenzurteil des Obergerichtes wegen der «Afrin-Demo» 2018 – und was Betroffene jetzt tun können.
Interview: ffg
Herr Nellen, im Januar 2022 wird eine Teilnehmerin einer Demonstration vom Obergericht vom Vorwurf des «Landfriedensbruch» freigesprochen. Worum ging es bei dieser Demonstration?
Die Demonstration fand 2018 im April statt. Es ging um ein Zeichen gegen die Besetzung des kurdisch-syrischen Kantons Afrin durch das türkische Militär. Rund 240 Personen wurden damals beim Bahnhof durch die Kantonspolizei Bern eingekesselt. Sie alle erhielten etwa ein Jahr später Strafbefehle mit dem Vorwurf des Landfriedensbruchs.
Eine Betroffene machte Einsprache. Im September 2020 wurde sie vor dem Gericht freigesprochen.
Genau. Die Person wurde vom Regionalgericht Bern-Mittelland freigesprochen. Parallel dazu hatten aber bereits dutzende Personen keine Einsprache gegen ihren Strafbefehl gemacht und waren somit rechtskräftig verurteilt. Nachdem eine weitere damals festgenommene Person von diesem Urteil erfuhr, stellte sie einen Revisionsantrag.
Der akzeptiert wurde?
Nein. Ihr Antrag wurde abgelehnt. Daraufhin machte die Betroffene eine Beschwerde dagegen beim Obergericht des Kantons Bern. Im Januar 2022 entschied das Obergericht, dass die Beschwerde berechtigt sei. Ausserdem war im Rahmen des «Kill-Erdogan»-Prozesses, wo im März die Urteile ergingen, die Afrin-Demo ebenfalls Thema – auch hier wurden die Beschuldigten wegen des Vorwurfes des Landfriedensbruchs freigesprochen.
Wie argumentierte das Obergericht?
Betreffend Landfriedensbruch muss man wissen: Es ist ein sogenannter Gummiparagraf, der viel Interpretationsspielraum beinhaltet. Ausserdem ist es ein «Mitgehangen, mitgefangen»-Artikel im Strafgesetzbuch – par exellence. Wenn nur eine Person Gewalt anwendet, können die Strafverfolgungsbehörden alle zu diesem Zeitpunkt sich in der Nähe aufhaltenden Menschen wegen Landfriedensbruch anzeigen. Das Obergericht argumentierte, dass an der Demo damals «keine friedensbedrohende Grundstimmung» und «keine aus der Demonstration hervorgehende Gewaltausübung» festgestellt werden konnte. Das Obergericht stützte sich auch auf den Polizeirapport, der von «Feststimmung» im Polizeikessel sprach.
Was bedeutet das für die über 200 Menschen, die ja immer noch als «verurteilt» gelten?
Grundsätzlich unterliegen alle Demo-Teilnehmenden der gleichen Situation. Aufgrund des Urteils des Obergerichts existiert jetzt ein Revisionsgrund für jede betroffene Person. Wichtig ist: Dieses Revisionsgesuch muss selbstständig beim Obergericht eingereicht werden. Und zwar bis maximal drei Monate nach der «Kenntnisnahme» des neuen Urteils.
Was ist daran problematisch?
Obwohl alle damals Eingekesselten nun de jure freigesprochen werden würden, muss de facto jede Einzelperson um diese Revision ersuchen. Tut sie es nicht, bleibt sie verurteilt. Das ist enorm problematisch. Vereinfachend und gerecht wäre es, wenn die Justiz die Betroffenen kontaktieren und auf die Revisionsmöglichkeit aufmerksam machen würde. Oder die Revisionsverfahren sogar von Amtes wegen einleiten würde.
Was bedeutet das für die Finanzen der Betroffenen – und diejenigen des Kantons? Gibt es die Hoffnung, dass sich die Staatsanwaltschaft das nächste Mal besser überlegt, ob sie 250 Menschen anzeigt?
Wer jetzt ein Revisionsgesuch stellt, der oder die erhält Busse, Verfahrenskosten und Anwaltskosten zurückerstattet und eventuell eine Entschädigung. Das lohnt sich also bereits finanziell. Zudem wird der Strafregistereintrag gelöscht. Für den Kanton könnten alle Revisionsverfahren jedoch enorm teuer werden – rund 200`000 Franken, schätze ich, fallen an Gesamtkosten für Verfahren, Revisionen, Anwält*innen, etc. an. Ich erhoffe mir schon sehr, dass die Strafverfolgungsbehörden ihre Lehren ziehen und zurückhaltender verurteilen. Ist es in einer Situation wie im April 2018 wirklich angebracht ist, Hunderte festzunehmen und danach die riesige bürokratische Maschine anzuwerfen, wenn die Erfolgsaussichten für eine Verurteilung gering sind? Und ich würde mir wünschen, dass sich die Gerichtspraxis ändert, und all diejenigen, die in derselben juristischen Situation stecken, schnell und unkompliziert freigesprochen werden.
Du willst ein Revisionsgesuch machen zu jenem spezifischen Fall? Schick uns eine Mail an megafon@reitschule.ch.
Diese Woche begann in Bern, nunmehr fünf Jahre nach dem fraglichen Ereignis, der sogenannte «Kill Erdogan» Prozess. Anstatt jedoch – wie geplant – innert zwei Tagen mit einem erstinstanzlichen Urteil zu enden, konnte bis zum Ende des zweiten Prozesstages am Mittwoch 19. Januar 2022 erst das Beweismittelverfahren abgeschlossen werden. Die Plädoyers von Staatsanwaltschaft und Verteidigung sowie die Urteilseröffnung werden am 2. und 9. März 2022 erwartet.
Ein Gastbeitrag des Antirep Bern, 20. Januar 2022
Ursache für diese Verzögerung war vor allem, dass sich der Prozess bisher hauptsächlich um Rolle und Politik des türkischen Staates drehte: Dies zum Verdruss des vorsitzenden Richters. Die spezifischen Vorwürfe gemäss den als Anklageschrift dienenden Strafbefehlen wurden noch nicht diskutiert. Dass dieser Prozess der türkischen Regierung und insbesondere auch ihrem Präsidenten Recep Tayip Erdogan ein persönliches Anliegen ist und aktiv Druck auf die Schweiz ausgeübt wurde zeigte sich – wie eine der angeklagten Personen in der Einvernahme ausführte – bereits im Vorfeld dieses Prozesses. Zum einen wurde das Transparent, dessen Aufschrift («KILL ERDOGAN – with his own weapons») in diesem Prozess zur Diskussion steht – mehrfach in Reden des Präsidenten erwähnt. Hierbei wurden sowohl der Inhalt als auch der Kontext verfälscht wiedergegeben. Zum anderen kam das Verfahren mehrfach in diplomatischen Gesprächen zwischen der Schweiz und der Türkei zur Sprache, wie sich anhand mehrerer Aktennotizen des Eidgenössichen Aussendepartements (EDA) in den Verfahrensakten zeigt. So wurde auch der Schweizer Botschafter in der Türkei im Nachgang an die fragliche Kundgebung von der türkischen Regierung einbestellt.
Die türkische Botschaft in der Schweiz erkundigte sich direkt hinsichtlich des Verfahrens und der «Internierung» möglicher Verdächtiger. Dieselbe Botschaft, welche im Sommer 2016 in die versuchte Entführung eines türkischen Geschäftsmannes aus der Schweiz in die Türkei verwickelt war. Die Verteidigung einer der Angeklagten versuchte denn auch mehrfach, bis zum Ende des Beweismittelverfahrens die verantwortlichen Personen des EDA hinsichtlich der versuchten Einflussnahme der Türkei als Zeug*innen vorzuladen. Dies wies der Richter als «sachfremd» ab.
Der scheinbare Journalist
Die Verwendung dieses Prozesses als Propagandamittel durch die türkische Regierung wurde bereits am ersten Verhandlungstag klar sichtbar. Das Gericht hatte über einen Antrag der Verteidigung zum Ausschluss eines Mitarbeiter der Nachrichtenagentur Anadolu (der in den 1920ern gegründeten staatlichen türkischen Nachrichtenagentur, welche nun als Sprachrohr der AKP und des türkischen Staates gilt) zu befinden. Dieser bezeichnete die Angeschuldigten um 7.00 Uhr, also eine Stunde vor Prozessbeginn, über Twitter als «Terroristen» und verstiess damit nicht nur gegen Prinzipien der journalistischen Ethik, sondern auch gegen die Unschuldsvermutung (Art. 32 BV). Der als Journalist akkreditierte Mitarbeiter von Anadolu wurde am zweiten Tag dann auch verwarnt, aber nicht ausgeschlossen.
Zeugenperson als Direktbetroffene von Erdogans Machenschaften
Mit Beginn des Beweismittelverfahrens erweiterte sich die Frage nach der Relevanz der türkischen Politik für dieses Verfahrens um die Ebene, inwiefern die Handlungen und Gräueltaten des türkischen Regimes – gerade auch im zeitlichen Umfeld der Kundgebung vom März 2017 – als Kontext für die Botschaft des fraglichen Transparentes relevant sind. Dies zeigte sich bereits bei der Befragung der ersten Zeugnisperson, einer im Frühjahr 2017 aus der Türkei geflohenen politisch aktiven Person, die den islamistisch motivierten Selbstmordattentates im Sommer 2015 in der kurdischen Stadt Suruc im Süden der Türkei überlebt hat. Diese Einvernahme wurde von der Verteidigung zur Erläuterung von persönlichen Erfahrungen mit der Politik der türkischen Regierung beantragt. Auch hier zeigte sich, dass der Richter hauptsächlich an der wörtlichen Bedeutung des Transparentes und den konkreten Vorwürfen gemäss Strafbefehl interessiert war und den politischen Kontext, in dem sich dieser Prozess und die Botschaft des Transparentes abspielt, auszublenden versuchte. So drehten sich dessen Fragen denn auch weniger um die damalige politische Lage in der Türkei, als vielmehr darum, wie das fragliche Transparent von der «türkischen Bevölkerung» aufgenommen und interpretiert wurde. Ausführungen der Zeugnisperson zur politischen Lage wurden mehrfach unterbrochen.
Mangelhafte Übersetzung
Erschwert wurde diese Einvernahme auch dadurch, dass sich der beigezogene Übersetzer der Zeugnisperson gegenüber eher herablassend verhielt und deren Aussagen oft verkürzt oder gar inkorrekt übersetzte. Dies zeigte sich etwa daran, dass allgemeine Aussagen (iSv: Das Transparent sollte allgemeine Kritik formulieren) oftmals in der 1. Person Plural (iSv: Wir wollten mit dem Transparent eine allgemeine Kritik formulieren) übersetzt wurden. Was dann auch dazu führte, dass der Richter begann, Fragen hinsichtlich einer möglichen (strafrechtlich relevanten) Beteiligung der Zeugin zu stellen, was von der Verteidigung danach in ihrer Befragung korrigiert werden musste. Durch diese inadäquate Übersetzung wurde somit eine Person in die Nähe potentieller Straftaten gerückt, deren Familie bereits im Vorfeld der Verhandlung aufgrund eines Tweets zu diesem Prozess in der Türkei mit einer Hausdurchsuchung konfrontiert worden war.
Worum es geht, darüber ist man sich nicht einig
Den beschuldigten Personen war es in erster Linie ein Anliegen, auf diesen weiteren politischen Kontext aufmerksam zu machen und sie verweigerten weitere Aussagen zu den konkreten Vorwürfen. Die erste angeklagte Person erwähnte dabei vor allem das völkermörderische Verhalten der türkischen Regierung – etwa durch den Angriffskrieg in Nordsyrien, Giftgaseinsätze auch gegen die Zivilbevölkerung, die jahrzehntelange Inhaftierung vermeintlicher politischer Gegner*innen oder die Unterdrückung der kurdischen Sprache sowie weitere Formen der ethnischen Säuberung – und widmete den Ermordeten dieser Politik eine Schweigeminute, der alle Angeklagten, Besuchenden und einige Journalist*innen folgten. Ausserdem verwies die beschuldigte Person darauf, dass die Schweiz als wichtiger Investor (aktuell Platz 7) in der Türkei ein grosses Interesse an einer guten Beziehung zu deren Regierung hat und dafür die Augen vor jeglichen Verbrechen verschliesse. Eine weitere Person fokussierte auf die sexistische und frauenfeindliche Politik der AKP – etwa durch Kündigung der Istanbul-Konvention, die Senkung des Heiratsalters oder die Entkriminalisierung von Vergewaltigungen – während eine weitere angeklagte Person versuchte anhand des Bauprojekts für den Istanbul-Kanal auf die klimaschädlichen Auswirkungen der türkischen Politik einzugehen. Der Richter reagierte jedoch zunehmend ungehalten und begann die Angeklagten immer häufiger zu unterbrechen. Dies endete erst, als die Verteidigung bei der letzten Einvernahme darauf hinwies, dass sich die angeklagte Person gerade zu Punkten äussere, die sich auf konkrete Aktenstücke beziehen und dies deshalb nicht als sachfremd abgebrochen werden könne. Trotz den Versuchen des Richters, die politische Ebene des Prozesses auszublenden und als isolierte Frage zu betrachten, liessen sich die Angeklagten und deren Verteidigung nicht beeindrucken und konnten den Inhalt der Verhandlung bisher weitestgehend dominieren.
Experte für visuelle Kommunikation im Zeugenstand
Hinsichtlich der Frage der konkreten Botschaft des fraglichen Transparents äusserte sich neben der erwähnten Zeugnisperson (die aussagte, dass dieses Transparent eher als eine allgemeine Kritik, denn als konkreter Handlungsaufruf verstanden wurde), vor allem die zweite vorgeladene Zeugnisperson noch ausführlicher. Als Fachperson im Bereich der Bildsprache und visuellen Kommunikation wies sie darauf hin, dass gerade bei Transparenten und ähnlichen politischen Parolen immer der jeweilige Kontext einzubeziehen sei und oftmals mit verkürzten Botschaften, Wortspielen und Metaphern gearbeitet wird (wie etwa einer brennenden Erdkugel als Symbol für die Klimaerwärmung). Die Aussage auf dem Transparent kann in diesem Kontext deshalb nur schwer wörtlich verstanden werden, auch weil es wohl eher auf die zugrunde liegenden Institutionen (Erdogan in seiner Funktion als Präsident des türkischen Staates) und weniger auf die spezifische Person zu beziehen sei.
Das Beweisverfahren endete schliesslich wieder mit der Frage nach der Einmischung der türkischen Regierung in dieses Verfahren. Die Angeklagten machten darauf aufmerksam, dass Polizei und Staatsanwaltschaft im Ermittlungsverfahren kaum Interesse an diesem Prozess zeigten und nur aufgrund politischen Druckes überhaupt vor Gericht stünden. Die letzte Einvernahme einer angeklagten Person, der vorgeworfen wird, auf dem Wagen, an dem das Transparent angebracht war eine Musikbox ausgerichtet zu haben und sich somit dem Aufruf zu Gewalt schuldig gemacht zu haben, endete dann auch mit der Frage der angeklagten Person an die Staatsanwaltschaft, weshalb diese überhaupt persönlich in diesem Prozess auftrete. Dies, weil nicht nur das geforderte Strafmass weit unter der üblichen Schwelle für ein persönliches Erscheinen der Staatsanwaltschaft liegt, sondern der zuständige Staatsanwalt im Vorfeld auch mehrfach betonte, dass er nicht persönlich erscheinen werde. Dieser vertröstete die angeklagte Person mit der Aussage, dass er auf diese Frage im Rahmen seines Plädoyers zu sprechen komme, welches den Auftakt zum zweiten Teil dieses Prozesses bilden wird.
Wider Erwarten ist das megafon als «Chefredaktion des Jahres 2021» ausgezeichnet worden. Wir freuen uns über die Anerkennung unserer Arbeit durch eine Mehrheit der Journalist*innen, die an der Abstimmung des Branchenmagazins «Schweizer Journalist:in» teilgenommen haben.
Seit sieben Jahren erscheint das megafon in der heutigen Form als Zeitung. Seit zwei Jahren publizieren wir auch Online und auf den Sozialen Medien. Die Publikationen des megafon «orientieren sich an Ansprüchen von Journalismus, Kunst, Gestaltung und Literatur», so heisst es in den redaktionellen Leitlinien. Doch so etwas wie eine «Chefredaktion», das findet sich im Organigramm, das die Arbeitsweise und die Entscheidungsprozesse festlegt, nicht.
Dass wir als etwas ausgezeichnet werden, das wir nicht haben und nicht sind, ist merkwürdig. Vielleicht gestatten sich einige Journalist*innen mit ihrer Stimme einen Seitenhieb auf ihre eigene Chefredaktion. Zum Beispiel eine Chefredaktion, der nicht gelingt, eine redaktionelle Arbeit ohne wiederkehrende Sparübungen und Entlassungen zu ermöglichen. Vielleicht freuen sich manche Kolleg*innen, dass redaktionelle Arbeit einen Eigenwert besitzt. Eine Gratiskraft, sodass sie auch ohne Bezahlung, scheinbar jenseits ökonomischer Zwänge und aus Freude an der Sache getan wird. Und vielleicht ist die Wahl in gewissen Fällen auch durch unsere journalistische Arbeit zu ansonsten kaum beachteten Zusammenhängen und Menschen begründet. Eine Arbeit, die die öffentlichen Plätze aufsucht und vor sogenannten digitalen Räumen nicht Halt macht.
Wer weiss. So ist das eben mit Wahlen: Die Entscheidung ist klar. Die Beweggründe bleiben vielfältig und interpretationsbedürftig. Heute freuen wir uns also über diese Mehrheit. Und Morgen befassen wir uns wieder mit der Wirklichkeit.
Sie geben sich bedrohlich und stark: Seit gut drei Monaten treibt sich eine Männer-Gruppe namens «Swiss Mens Club of Freedom» an Demonstrationen der Massnahmengegner*innen herum. Viele fragen sich: Wer ist das? Wir sind dem nachgegangen.
Seit einigen Wochen kursieren auf Twitter und in einschlägigen Telegram-Chats Gruppenfotos von Männern, die in schwarzen Pullovern mit einheitlichem Logo posieren. Über dem Logo – einem Lorbeerkranz mit den Buchstaben «WG» in der Mitte – steht: «Swiss Mens Club of Freedom since 2021». Die Männer bewegen sich im Umfeld der Massnahmengegner*innen und leisten auch Sicherheitsdienst an Demonstrationen. Auf ihrem Twitter-Kanal schreibt die anonyme Gruppe über sich: «Kollektiv aus verschiedenen Ecken, Gesinnungen und Nationalitäten in der Schweiz.» Wer also ist dieser «Swiss Mens Club» und warum gibt es ihn? Ist die Gesinnung wirklich so divers? Wir sind in diese «Männerwelt» eingetaucht.
Der «Swiss Mens Club» wird von seinen Mitgliedern auch «Männer WG» oder nur «WG» genannt. Erstmals in der Öffentlichkeit aufgetaucht sind die Kleider mit dem WG-Logo an der Grossdemonstration vom 23. Oktober 2021 in Bern.
Doch der Name «Männer WG» tritt schon früher in Erscheinung: Am 19. September 2021 trafen sich einige Massnahmengegner*innen zu einem Fest in kleinem Kreis nahe der Deutschen Grenze. «Grill&Chill» stand auf der Einladung. Es wurde ein Gebäude in einem kleinen Dorf gemietet, Lichterketten montiert und Spielsachen bereitgestellt. Sogar an die Tischdekoration wurde gedacht.
An diesem Fest entstand ein Gruppenfoto. Darauf abgebildet: 15 Männer und eine Frau. Tags darauf taucht der Begriff «Männer WG» das erste Mal in Telegram-Chats auf – bezogen auf ebendieses Foto. Das lässt darauf schliessen, dass sich die Gruppe an dem «Grill&Chill»-Fest gegründet hat.
Von den ca. 20 Erstmitgliedern des «Swiss Mens Club of Freedom» konnten wir 13 mit Namen identifizieren. Eine Auswahl davon wird im Folgenden vorgestellt.
Martin H. – «Papi» und rechtsradikal
Einer, der das Logo schon früh auf seinem Telegram-Profil zeigte, ist Martin H. aus dem kleinen Dorf B. nahe der Deutschen Grenze. Er scheint eine zentrale Figur zu sein: So war er Gastgeber des oben genannten Festes, an welchem die «WG» gegründet wurde.
Martin H. ist schon sehr lange an Demonstrationen unterwegs, wo er sich aktiv vernetzt. Auf Telegram partizipiert der Vater von drei Kindern in diversen Chats von Massnahmengegner*innen. Hier teilt er nebst Demoaufrufen auch LGBTQI*-feindliche Inhalte – beispielsweise das Piktogram einer Familie, die sich mit einem Regenschirm vor einem Regenbogen schützt. In anderen Posts ruft er aktiv zu Gewalt an Gegendemostrant*innen auf. In einem Fall gar zu Entführung ebendieser: «AntifantenJagd in Zürich! Wer holt sich das grösste Exemplar», steht da.
Auf seinem Telegram-Profil bezeichnete Martin H. sich selbst als «Eh(r)enmann, Papi, Eidgenoss, Freiheitskämpfer, das Netzwerk». An einer Veranstaltung der «Corona Rebellen» vom 2. Oktober 2021 in Zug war er mit einem «Peripetie»-Shirt zu sehen. Eine Marke, die hauptsächlich von rechtsextremen getragen wird: Die Motivation für die Gründung von «Peripetie» war es explizit, eine Marke zu schaffen, die nur von Rechten getragen wird. Auch «Pepe the Frog» kommt bei Martin H. immer wieder vor: «Pepe = Liebe» schreibt er beispielsweise. Pepe ist ein beliebtes Symbol bei Rechtsextremen.
Simon W. – Physiognomie als Hobby
Weiter in der Gruppe dabei ist Simon W. Einen YB-Schal um die Schultern gelegt, sieht man ihn oft an Demonstrationen, insbesondere in Bern und Zürich. Doch auch in Schaffhausen war er schon demonstrieren – hier gar in einem Hemd der Freiheitstrychler, die Kuhglocken schwingend.
Noch mehr als Corona fürchtet Simon W. den sogenannten «Kommunismus 2.0». Und der wird laut seinem Weltbild gerade jetzt eingeführt. Was Simon W. dagegen weniger schlimm findet ist Rassismus. «Ich finde Rassismus völlig normal.», führt er in einer Telegram-Diskussion aus.
Eine Leidenschaft von Simon W. ist die «Physiognomie». Für ihn heisst das, Menschen anhand ihrer Gesichtszüge eine Abstammung zuzuordnen. Er bezieht sich damit auf eine «Wissenschaft», die es nicht gibt. «Ich schaue allen ins Gesicht und frage mich, woher sie abstammen. Beschränke mich dabei aber nicht auf Ashkenazi.» Aschkenasim ist eine Selbstbezeichnung von mittel-, nord- und osteuropäischen stämmigen Juden. «Ich mag das zuordnen und ob ich richtig lag», schreibt er und erklärt, dass es beispielsweise bei «Bergjuden» «sehr schwierig» sei. Simon W. behauptet, dass er Georgier, Tschetschen, Armenier und Azeri gar auf 100 Meter auseinander halten könne – «ist ein Hobby».
Weiter ruft er auf, man müsse «die Hintermänner finden und aufhängen, die unser Land in Gefangenschaft nahmen». Damit in der Schweiz nicht dasselbe passiere wie in der Ukraine. Mit «Hintermänner» meint Simon W. jüdische Menschen. Denn: die Juden hätten seiner Meinung nach den Krieg zwischen Russland und der Ukraine angezettelt.
Simon H. und Bruno B. – Ein Mitläufer und LGBTQI*-Hass
Simon H. seinerseits versucht schon seit über einem Jahr, Anschluss zu rechtsradikalen Massnahmengegner*innen zu finden. Nun scheint er es geschafft zu haben. Das Gedankengut von Simon H. ist rechtsideologisch geprägt. So zeigt er sich gerne in T-Shirts der rechtsextremen Partei PNOS. Und auch er trägt die oben erwähnte rechtsextreme Marke «Peripetie».
In Chats schreibt Simon H. von «LGBTQI*-Verseuchung» und davon, Gegendemonstrant*innen zu «zerreissen». Er will Frauen, Kinder und Alte an Demonstrationen verteidigen. Ausserdem spricht er Drohungen gegen Journalist*innen aus. Den Chat-Admin des Telegramkanals «patriot.ch» bezeichnet er als einen «guten Anführer».
Weiter im «Swiss Mens Club» aktiv ist auch Bruno B. Er ist schon länger an Demonstrationen unterwegs und teilt ab und zu Videos davon. Dort hält er gerne Ausschau nach Zivilpolizist*innen oder Gegendemonstrant*innen.
Bruno B. hat in seinem Telegram-Profil ein Bild mit dem alten Logo von Thor Steinar – ein Erkennungsmerkmal der rechtsextremen Szene. Seine rechtsextreme Gesinnung zeigt sich auch in seiner Chat-Aktivität: Viele Posts handeln von Migranten, die einheimische Frauen töten sollen. Zudem macht er – wie Martin H. – LGBTQI*-feindliche Posts und insbesondere «Linke und Grüne» hasst er. Der Klimawandel: ein Fake. Die Klimamassnahmen: ein Mittel zum Machtaufstieg der Linken.
Enzo S. – «Bomben-Holocaust» und «Reisfresser»
Auf dem oben erwähnten «Gründungsfoto» des «Swiss Mens Club of Freedom» ist auch Enzo S. ersichtlich. Enzo S. ist glühender Qanon-Anhänger. Daneben schreibt er unter anderem vom «Bomben-Holocaust», ein Begriff der Rechtsextremen in Deutschland, und gedenkt den «Verbrechen an Deutschen – das augenscheinlich grösste Tabu des 20. Jahrhunders». In einem Post ärgert er sich über den «genetisch gefickter Gehorsam» der «Reisfresser». Pikant: Enzo S. gründete ein Hilfswerk in Kambodscha, wo er vor Ort mitgearbeitet hatte.
Auf Telegram nennt er sich «Renzo Destra» und ist bekannt für seine zahlreichen Videos, in denen er die wildesten Verschwörungsmythen verbreitet. Über einen Virologen schreibt Enzo S. in einem Chat: «Es sind sehr, sehr kranke und korrupte Zeitgenossen, die ihr Leben hier auf der Erde verwirkt haben! Die werden keine Chance haben, bei einem Militärtribunal lebend durchzukommen!!!!!!».
Seinen Telegram-Kanal führt er mit dem bekannten Freiheitstrychler Chrigi Rüegg.
«Grill&Chill X-Mas Edition» – mit organisierten Neonazis
Am 5. Dezember 2021 fand bei Martin H. ein weiteres Fest statt. «Grill&Chill X-Mas Edition», so der Name. Die Tischdekoration diesmal weihnachtlich mit Erdnüssen, Mandarinen und Kerzen. Auch an diesem Fest war die «Männer WG» anwesend. Mit dabei: Sepp H., der auf Facebook unter Posts der rechtsextremen Partei PNOS fleissig kommentiert.
Auch Daniel B. war Gast am «Grill&Chill X-Mas Edition». Vor kurzem veröffentlichte das linke Kollektiv MiliZH eine ausführliche Recherche über die Verbindung der Naziszene mit den Massnahmengegner*innen. Auf einem dieser Bilder zu sehen ist Daniel B., wie er in Luzern mit Nazis marschiert.
Bei zahlreichen anderen Mitgliedern findet sich ein rechtsextremer Hintergrund: so reiste ein WG-Mitglied namens «Woschi» kürzlich zu Ignaz Bearth nach Ungarn. Ignaz Bearth ist ein rechtsextremer Politiker, der mittlerweile nach Ungarn ausgewandert ist und von dort aus unter den Massnahmengegner*innen kräftig für sein rechtes Gedankengut wirbt.
Fabian I. – der Linke?
Bei der klar rechtsradikalen Gruppe scheint nur einer aus der Reihe zu tanzen: Fabian I. Denn Fabian I. läuft an Demonstrationen immer mit einer Anarchie-Fahne herum. Doch was macht ein Linker in rechtsradikalen Kreisen? Wie das Kollektiv MiliZH ausführt, ist die Anarcho-Gesinnung bei Fabian I. wohl mehr Schein als Sein. MiliZH schreibt: Fabian I. glaube an die Verschwörungstheorie, dass jüdische Menschen selbst den Holocaust verübt hätten. Zudem sei er nicht in linken Strukturen aktiv gewesen, sondern war lediglich Teil einer Cybergoth-Subkultur und ging an Festivals.
Journalist*innen wissen mittlerweile: Fabian I. ist an Demonstrationen oft stark betrunken und darum in seiner Handlung unberechenbar. Gewalt scheut er nicht.
Die «Männer WG» in der Coronabewegung
Wie oben erwähnt tauchten die WG-Mitglieder zum ersten mal am 23. Oktober 2021 an einer Demonstration auf. Schon an dieser – organisiert von der Freien Linken und dem Bündnis Urkantone – befanden sich Männer in WG-Kleidung im Sicherheitsteam. Sie bewegten sich vor dem Demozug. Ebenso traten sie an der Demonstration vom 20. November 2021 in Zürich auf – diesmal organisiert von «Mass-Voll». Am 23. November 2021 schliesslich stellten gar die Freiheitstrychler den «Swiss Mens Club» als Sicherheitsdienst auf.
Interessant in diesem Kontext ist zudem eine weitere Veranstaltung: Am 2. Oktober 2021 veranstalteten die «Corona Rebellen» einen Event in Zug, der es in sich hatte. Sechs Stunden lang folgte Vortrag auf Vortrag mit einer Verschwörungserzählung nach der anderen. Themen waren unter anderem: Chemtrails, Great Reset, Ritueller Missbrauch, 12-Punkte Plan der neuen Weltordnung und viele weitere. An diesem Tag führten Mitglieder der «WG» die Einlasskontrolle zum Gelände durch.
Aus Journalistenkreisen ist zudem zu vernehmen, dass insbesondere die WG-Leute Reporter*innen an Demonstrationen bedrängen und versuchen sie einzuschüchtern. Trotzdem werden sie von wichtigen Organisationen als Demoschutz akzeptiert oder gar aktiv angefragt. Die Organisator*innen scheinen kein Problem damit zu haben, betrunkene, gewaltbereite Rechtsradikale als Prügelknaben an Demonstrationen einzusetzen, um Journalist*innen und Gegendemonstrant*innen einzuschüchtern.
Wenn die «WG» von «verschiedenen Gesinnungen» schreibt, die ihre Gruppe ausmache, erscheint dies fragwürdig. Die meisten der Mitglieder hassen die LGBTQI*-Community und äussern sich rassistisch. Sie haben ein sehr gewaltbereites Auftreten und viele von ihnen arbeiten mit rechtsradikalen Symbolen und tragen rechtsradikale Marken.
Damit, dass die Organisationen der Coronabewegung die «Männer WG» als Demoschutz einsetzt und deren aggressives Auftreten toleriert, legitimieren sie auch deren Gedankengut. Dass das rechtsradikale Gehabe weder die Demoorganisation noch die Demoteilnehmenden stört, spricht Bände. Die Aussage «Ich habe noch nie Rechte an einer Demo gesehen» wirkt vor diesem Hintergrund geradezu lächerlich. Dass Rechtsradikale und Rechtsextreme sogar Demoschutz an einer Kundgebung der Freien Linken machen dürfen, ist absurd. Wer in seinen Reihen Rechtsextreme toleriert, toleriert Rechtsextreme in seinen Reihen.
Und die Verschwörungen?
Die gibt es. Reichlich. Freimaurer, Chemtrails, Ufos, Pädophilenringe, Satanistenorden, Massenmord durch verseuchte Corona-Tests, die Sonne bestimmt das Klima nicht CO2, angebliches Massensterben von Geimpften, Killer-Impfstoff, Great Reset, Gehirnchip, sind nur einige Stichworte.
‹Safespace› für menschenverachtendes Gedankengut
Trotzdem wirkt die «Männer WG» auf den ersten Blick oft wie ein Haufen Dorfclowns, die sich gerne gemeinsam betrinken, an Demonstrationen und Events krasse Macker markieren und sich gegenseitig auf die Schultern klopfen beim Grölen von rassistischen Parolen. Die «Männer WG» zeigt sich oftmals dilettantisch organisiert und scheint zu Teilen aus Mitläufern und Möchtegern-Rebellen zu bestehen. Trotzdem ist die Gruppierung als Phänomen auf jeden Fall ernst zu nehmen. Sie dient der Zelebrierung einer toxischen Männlichkeit und der verzweifelten Wiederbelebung des Alphamannes, der Frau und Kinder vor bösen Eindringlingen schützt. Sie kreiert einen ‹Safespace›, wo sexistisches, queerfeindliches, rassistisches und antisemitisches Gedankengut noch willkommen sind. Und all das ist kein Zufall.
Das Konzept der «Männer WG» und ihr Auftreten entspricht einem Trend, den die extreme Rechte im deutschsprachigen Raum schon länger aktiv kultiviert. Rechtsextreme Publizistik und aktivistische Gruppierungen wie die «Identitäre Bewegung», rechtsextreme Burschenschaften, aber auch pseudo-intellektuelle Männergemeinschaften haben längst entdeckt, wie sich rund um die Themen «Mann» und «Männlichkeit» diverse Verschwörungstheorien verknüpfen und Feindbilder aufbauen lassen. Beispielsweise die des Bevölkerungsaustausches bzw. «The Great Replacement», die bereits seit Jahrzehnten kursiert. Gesteuert von jüdischen elitären Mächten sollen angeblich muslimische Migranten gezielt nach Europa geschleust werden, wo die «Eindringlinge» mit der LGBTQI*-Community gemeinsame Sache machen und die traditionelle, christliche, weisse, cishetero, monogame Kernfamilie angreifen um die europäische, weisse Bevölkerung Stück für Stück auszutauschen.
Die bösen Feministinnen unterstützen diesen Plan angeblich, indem die durch die Emanzipation der Frau sinkende Geburtenrate es den bösen Mächten scheinbar noch leichter macht, die traditionelle Familie zu zersetzen. Und wer steht laut der extremen Rechten wie ein Fels in der Brandung inmitten dieses Sturms an irrsinnigen Verschwörungstheorien? Richtig, der christliche, weisse, cishetero Mann, der sich schützend vor Frau und Kinder stellt.
Die Wiederbelebung der «rechtsextremen Männlichkeit»
Rund um dieses Konzept des Mannes lassen sich nach Belieben Verschwörungsnarrative kombinieren und traditionelle faschistische Feindbilder werden weiter verfestigt. Dabei spielt den Propagandaministern dieser Gruppierungen in die Hände, dass progressive Anliegen wie Queerfeminismus in der Mitte der Bevölkerung viele Emotionen auslösen. Männer, die von feministischen Errungenschaften eingeschüchtert sind, um ihre patriarchale Vorherrschaft fürchten oder schlicht Angst haben, in dieser vorwärtsgehenden Gesellschaft keine Partnerin zu finden, finden in diesen Gruppierungen den perfekten Anschluss. Diese Emotionen bilden den perfekten Nährboden für eine Radikalisierung, welche die Rechte geschickt für sich auszunutzen weiss.
Vereinigungen wie die «Männer WG» bieten einen Safespace, wo alles noch ist, wie vor 50 Jahren, auch das Männlichkeitsbild. Hier können sich diese Männer noch als Krieger, Beschützer, Helden inszenieren. So zum Beispiel auch «WG»-Mitglied Jürgen B., dessen Facebookprofil sich fast ausschliesslich um verstörende Meldungen von verschwundenen Kindern und Gewalt gegen Frauen dreht. Dies jedoch nicht, weil sich Jürgen B. gegen patriarchale Gewalt einsetzen will, sondern weil er zu wissen meint, wer für diese Zustände verantwortlich sein soll.
Mit diesem archaischen Männlichkeitsbild geht oft eine Faszination für Gewalt, Waffen, Kampfsport und Kriegstechniken einher. Auch Mitglieder der «Männer WG» zeigen sich immer gerne in diesen Kontexten. Bei den einen mag es in diesen «Hobbys» tatsächlich um Verteidigung gehen. Um Selbstverteidigung, Verteidigung der Familie, des Status Quo, der aktuellen Machtverhältnisse. Andere jedoch stehen längst an einem anderen Punkt, fantasieren von gewaltvollen Umstürzen und der aktiven Verfolgung ihrer politischen Feindbildern.
«Männerbünde» zur Festigung rechtsextremer Strukturen
Und genau deshalb sollte man Clowntruppen wie die «Männer WG» eben doch ernst nehmen. Die Entwicklung der extremen Rechten im deutschsprachigen Raum zeigt, dass sich solche Vereinigungen als Konzept bewährt haben, um rechtsextreme Strukturen aufzubauen und Ideologien zu verfestigen. In der «Männer WG» lassen sich viele Mitläufer und Möchtegern-Widerständler finden – aber genau die braucht der harte Kern der Rechtsextremen und Faschos, um langfristig ihre Pläne verfolgen zu können. Sie sollen eben nicht in erster Linie die Infrastruktur für die gezielte Organisation von politischen Aktionen bieten. Sondern den traditionellen «Männerbund», wie solche Gruppen schon anfangs 20. Jahrhundert genannt werden, wiederbeleben. Das Konzept «Männerbund» spielte auch im Regime des Nationalsozialismus eine elementare Rolle, welche das Bild der «Männlichkeit» weiter mit klassisch rechtsextremen Motiven auflud.
Das muntere Zusammenkommen, Vernetzen, Biertrinken, sexistische Schnupfsprüche reissen sowie das Kampfsporttraining und die Begleitung von Demonstrationen von Männern im rechten bis rechtsextremen Spektrum sollen im Mainstream ankommen, kulturell verankert werden oder bleiben. Denn genau darauf setzt die extreme Rechte in Europa: Dass ihre Strukturen und Ideologien in der Mitte der Gesellschaft ankommen und verfestigt werden. Mit Gruppierungen wie der «Männer WG» verfügen eingesessene Neonazis nicht nur über ein Netzwerk von gewaltbereiten Mitläufern, die auf ihr Kommando reagieren. Sondern auch über ein Netzwerk, das sich ihren Platz mitten in der Gesellschaft schafft.
Es wäre nicht erstaunlich, wenn die «Männer WG» schon beim nächsten Schützenfest in Hinterdöttingen Bratwürste verkauft, das Geld an einen «guten Zweck» spendet – und dabei ganz nebenbei Männer und Jungen anwirbt, die schon länger einen Groll gegen den Feminismus und andere progressive Entwicklungen hegen.
Nachtrag:
Am 20.12.21 machte die «Männer WG» einen weiteren Schritt an die Öffentlichkeit. Neben einem auf Telegram verbreiteten Text, in welchem die Gruppe von sich behauptet, «unpolitisch» und «antifaschistisch» zu sein, schaltete sie auch eine eigene Website auf.
Interessant daran: Die Domain der «Männer WG»-Website verwendet die Nameserver der «Hilweb GmbH» und führt selbige auch als Registrar auf. Die «Hilweb GmbH» ist die Firma des IT-Unternehmers Markus Hilfiker, welcher unter anderem das Portal «Patriot.ch» und den gleichnamigen Telegram-Kanal betreibt. Wie der «Blick» berichtete, unterstützt er zudem die «Freiheitstrychler» bei ihrem Internetauftritt, ihrem Versand-Shop und ihren Markenregistereinträgen.
Die von rechtsradikalen, rassistischen und queerfeindlichen Personen geprägte «Männer WG» ist also keineswegs eine unbedeutende Splittergruppe am Rand der Coronabewegung. Vielmehr ist sie gut vernetzt mit wichtigen Akteur*innen der Szene. Und sie versucht gerade, mehr Leute für ihre Sache zu rekrutieren.
Weiterführende Literatur:
Ginsberg Tobias, Die letzten Männer des Westens, Antifeministen, rechte Männerbünde und Krieger des Patriarchats, Hamburg 2021.
Blum Rebekka / Rahner Judith, Triumph der Frauen? Das weibliche Antlitz des Rechtspopulismus und -extremismus in ausgewählten Ländern, Berlin 2020.
Ebner Julia, Radikalisierungsmaschinen, Wie Extremisten die neuen Technologien nutzen und uns manipulieren, 2. Aufl., Berlin 2019.
Piper Ernst, Die jüdische Weltverschwörung, in: Julius H. Schloeps / Joachim Schlör (Hrsg.), Antisemitismus, Vorurteile und Mythen, München 1995, 127-135.
Salzborn Samuel Rechtsextremismus, Antisemitisches Verschwörungsdenken im
Rechtsextremismus, in: Samuel Salzborn (Hrsg.), Antisemitismus seit 9/11, Ereignisse,
Unsere beiden Reporter daf und ffg waren an einem Konzert. Zum zweiten Mal folgten sie dem Ruf von «AMIXS», der neuen Synthie-Popper-Avantgarde aus Basel. Dieses Mal führten sie ein Nachttagebuch, das sie im megafon exklusiv veröffentlichen.
Text & Fotos: DAF, FFG
AMIXS sitzen bei Bier und Momos neben Jeans for Jesus, einer Musikgruppe aus Bern, inklusive Entourage. AMIXS, wer ist denn das? Das sind Simon, der mit den pinken Haaren und tiefen Stimme, Salz, Patrick Salz, der mit dem Gefühl für die Synthis und Tommy, der mit dem Gefühl für die Drums, der Neuste in der Band (seit diesem Album dabei). Wir hätten auch essen dürfen dort, das wussten wir nicht und haben uns so schon im «Sultan» bedient. «Um 8 im Sultan? Viel zu früh!» weist uns Simon zurecht. Später werden wir nochmal vorbeischneien. Zu üblicheren Zeiten.
20:30 – Rotwein beim Beim-Znacht-Zusehen AMIXS ist auf Tour mit dem «Bahnhof Buffet Olten», ihrem neusten Album. Das Konzert in der Kaserne in Basel markiert den Abschluss ihrer «Olten re-Tour». «Ich mag nichts essen, bin so aufgeregt, nur eine Viertelstunde Soundcheck. Das ist zu wenig», sagt Simon und wir laufen mit AMIXS zur Kaserne, wo in einer halben Stunde das Konzert beginnt. Wir stolpern in den Konzertsaal. Hier sucht und findet Simon den AMIXS-Merchandisekoffer, drückt ihn uns im Wohnzimmer wieder in die Hand – wir haben für nach dem Konzern einen Job gefasst. Danach geht’s hoch ins Back Stage. Sanja ist auch schon da: Sie singt auf einem Feature bei AMIXS neuer Platte. Viel Zeit bleibt nicht mehr, um es sich gemütlich zu machen. AMIXS und Sanja bilden einen Kreis und umarmen sich. Vom Tisch mit den Snacks schaut DJ Bobo in legerer Pose zu.
21:15 Bier mit Konzert
Das Konzert beginnt um 21.15 Uhr ohne Publikum. Als die ersten Töne von Patricks Synthesizer erklingen, öffnet sich das Tor und die Menschen strömen in den Saal. Die Halle füllt sich rasch. 200 Leute vielleicht. Die Masse scheint uns motiviert, aber auf eher bedacht, denn exaltiert zu sein. Vor der Bühne ein Sicherheitsabstand zur Band von etwa zwei Metern. Kein Gerempel, kaum Berührungen, man steht trotzdem eng. Die Bühnenpräsenz von AMIXS ist stark. Während Tommy und Salz ihre Drums und Keys bearbeiten, springt Simon vor- und zurück, legt sich hin, mäht mit seiner Stimme die Übergänge. Beim Finalsong «Mach mit» hüpft er fast durchgehend, was die Meute ansteckt. (Fast) alle machen mit. Dann ist fertig, und nach einem lauten Applaus verabschieden sich Band und Crowd voneinander. Die einen müssen gehen (AMIXS), die anderen (Crowd) warten auf das nächste Konzert.
22:00 Merch-Stand mit Apérol
Wir zwei verkaufen unterdessen Shirts, Platten und AMIXS-Glutamat am Merch-Stand. Die Band baut ihr Equipment ab. «Es war recht wild» sagt Julia, die das erste Mal die BaslerBoyBand live erlebte. «Sie haben die 80er in die Schweiz geholt». Daneben sitzt Niklas, der ebenfalls das erste Mal dabei ist. «Ich mag den Lokalbezug, den Text habe ich nur teilweise aufgeschnappt.» An der Bar wird unser grünes Backstage- Bändeli zuerst nicht akzeptiert. Erst nach unserem Insistieren bekommen wir den Aperol zum halben Preis. Wir trinken wie mit Halbtax – was für 1Leben. Kunst misst sich nicht am Portemonnaie und Journalismus nicht an der Auflage.
22:21 Merch-Stand mit Prosecco
Im Wohnzimmer der Kaserne in Basel: Parkett-Boden in hohen Mauern; Steh- und Hängelampen leuchten sie aus. Fasan und Fuchs, ausgestopft, schauen hinter der Eckbar auf die Gäste herab. «Im Rössli wars ein Bisschen dreckiger als hier», stellen wir fest. Andrea, die heutige Mischerin von AMIXS, setzt sich zu uns, während Simon, der mittlerweile beim Merch-Stand angekommen ist, seine Fans unterhält und J4J nebenan «Estavayer» in die Mikrofone stöhnen. Andrea hat vor drei Wochen im Rössli AMIXS zum ersten Mal abgemischt. Sie wohnt in Basel und arbeitet regelmässig für den Dachstock und das Rössli in Bern. «Beim Live-Konzert kann es holpriger tönen, als auf der CD. Ich finde das gut», wir können nur beipflichten. Wie fand sie ihre Harmonie heute mit AMIXS? «Teilweise haben wir uns nicht verstanden, und die Vorbereitungszeit war zu knapp», sagt sie. J4J standen im Stau, so verzögerte sich der Soundcheck. «Ansonsten hats sehr Spass gemacht. Die Soundqualität war gut.»
23.15 Interview mit Patrick Salz
Um AMIXS zu verstehen müssen wir uns auf die Zwischentöne konzentrieren. Die Wahrheit erkennen wir nur, wenn wir das Milieu verstehen, aus dem sich AMIXS als Basler-Boy-Band schält. Ein wenig Kunsti-Chic, sozial-ökologisches Bewusstsein und der Exzess.
«Alli machet mit» – ein kritischer Song für die unkritischen Massen, erklärt uns Patrick. «Du schänksch dere Welt dis Härz – du hesch so viel Liebi zgä – du erhabni Referänz – hesch nie a dis Ego dänkt.» So klingt der Refrain des Liedes. «Die Idee dahinter ist es, den Willen zum Mitmachen zu illustrieren, sich nach einem Anführer oder einem Leitmotiv zu richten, ohne sein Handeln zu hinterfragen», meint Salz. Gleichzeitig sei es ein «Dialog-Song, bei dem das Volk interagiert mit dem Herrscher interagiert – das Volk antwortet im Refrain mit «…hesch nie a dis Ego dänkt», und frotzelt damit über seinen Herrscher». Gerade die Reaktion des Publikums, das vorhin im Konzertsaal tatsächlich mitmacht und Simons Hüpfen kopiert, ist erschreckend schön zu betrachten. Da ist nämlich beides, Hörigkeit gegenüber der Band und eine übertriebene Spiegelung der drei Leute, die da auf der Bühne hüpfen und musizieren.
Andere Lieder wie «Kannenfeldplatz» zelebrieren die eigenen Alltagspraxen und Ästhetik, wo die Zigaretten selbst gedreht und die Kleider von der Brockenstube sind. Hier geht es eher um das Lebensgefühl, als um den Inhalt. Auch Rückzüge und Utopien werden thematisiert, im Lied «Balkonien». «Bahnhof Buffet Olten», nein das ist keine Hommage an Peter Bichsel, sondern eine Hymne auf das Nebelmeer und an den inoffiziellen Mittelpunkt der Schweiz. «Sisch nid wit wägg – E halb Stund vo det, e Halbstund vo da, e Halbstund vo überall – is Bahnhofbuffet Olten». Die Musik von AMIXS ist dadaistisch, gleichwohl auch Sozialstudie und Sozialkritik für eine Generation, die nichts mehr neu erfinden kann. Alles schon mal dagewesen und jetzt dasselbe – einfach anders, oder einfach wieder mal hervorgeholt und neu vertont. AMIXS funktioniert auch ohne Text.
2:00 Ins René auf nen Absacker
Simon zieht uns mit. Wir laufen über den leeren Kasernenplatz. Zigarettenrauch wabert in die neblige Nacht hinein. Felix hängt sich bei Simon ein. Im René (das sich hinter einer unscheinbaren Tür einer dunklen Häuserfassade verbirgt) gibt’s ein ausgeklügeltes Schleusensystem, damit kein Lärm nach Aussen dringt. Als wir drin sind, läuft 80ies-Rock. Die Tische sind alle besetzt. Gäste, die schon am Konzert waren, warten an der Bar, bis wieder einer frei wird. Man rückt die Stühle näher. Alkohol ist weissgott schon genug geflossen, aber wir gönnen uns noch was. Plötzlich knutschen drei Leute, wie geht das, frage ich mich; daneben dreht sich einer hektisch hin- und her; jemand fotografiert. Niemand stört sich.
«Das wäre in der Reitschule anders», sagt der, der neben mir sitzt und schmunzelt. Den Barkeeper bekommen wir nicht zu Gesicht, trotzdem füllen sich unsere Gläser immer wieder. Simon ist ja auch noch da. Simon verlässt selten der Platz. Einer entdeckt unsere Kamera und fängt an zu fachsimpeln. Wir nutzen den Moment und gehen auf die Toilette. Kurz beraten, wie geht’s nun weiter? Simon ist schon ziemlich betrunken und wir dürften auch nicht mehr Autofahren. Noch ein paar Fotos und ein Statement eines Gastes. «Die Leute setzen sich wohl gerne in Szene», nuschelt David hinter der Hand hervor. Beim «Renée» handle es sich auch um eine Kunsti-Kneipe, erklärt uns Chris, der Simon kennt, «lange geöffnet, teure Cocktails, was willst du mehr?». Wir lachen, die teuren Cocktails passen dann doch nicht ganz ins Konzept, wie sich Felix den* oder die* «brotlose Kunsti» vorstellt. Dann solls losgehen, raus in die Novembernebelnacht, in die warme WG von Simon. Der Abend droht sich im Kreis zu drehen, es tauchen altbekannte Gesichter auf, eine Gruppe von jungen Leuten, sie umarmt sich. Wir schauen zu und hoffen, dass Simon sich bald losreisst.
9:30 Lecker Kaffee am Bahnhof Basel
Der nächste Tag war ein Freitag. Wir gingen in die Küche und merkten, dass wir keine Lust hatten, die Kaffeemaschine verstehen zu lernen. Der Abend war ja noch nicht lange her und hatte seine Spuren hinterlassen. Mit dem 30er fahren wir zurück zum Bahnhof Basel. Mit einem Kaffee in der Hand sitzen wir im Zug und schon bremst Olten neben uns. «Wollen wir aussteigen? Noch ein Kaffee, diesmal in DEM Bahnhofbuffet?», aber mein Gegenüber winkt ab. Als der Zug noch minutenlang stehen bleibt, glauben wir dann doch an ein Zeichen von Oben. Für AMIXS lohnt es sich, in Olten aus-, statt umzusteigen. Effizienzgedanken vergessen, nicht mehr mitmachen, einfach mal beobachten, was immer da ist, aber nicht gesehen wird. «Sisch nid wit wägg».
Auf unserem Twitteraccount veröffentlichten wir vergangenen Sonntag ein Meme, das hohe Wellen schlug. Es bezog sich auf die Verwendung verschiedener Hinrichtungsmetaphern durch die Tamedia-Journalistin Michèle Binswanger. Der Medienkonzern Tamedia kündigte daraufhin eine Strafanzeige gegen uns an. Im Folgenden unsere Stellungnahme zu den Ereignissen.
Die Vorgeschichte
Die profilierte Tamedia-Journalistin Michèle Binswanger mag Metaphern. Auch solche, die mit dem Tod zu tun haben. So bezeichnete sie im vergangenen Jahr die entschiedene Kritik an der Influencerin Mirjam Jäger als «mediale Hinrichtung» ebendieser. Die Kritiker*innen der Schriftstellerin J.K. Rowling nannte sie einen «Mob», der «die Autorin auf dem virtuellen Scheiterhaufen brennen sehen» wolle. Und vergangenen Sonntag bemühte sie die morbide Sprache einmal mehr in einem Interview mit dem Journalisten Stefan Aust: «Der Vorwurf, rechts zu sein, kann ein gesellschaftliches Todesurteil sein.»
Diese sprachlichen Blüten bewegten unseren satirischen Flügel dazu, die Verwendung solcher Hinrichtungsmetaphern aufzugreifen und in die Form eines Twitter-Memes zu bringen. Dieses sollte die Sprachbilder gezielt überspitzen und verzerren. Und so aufzeigen, wie absurd es ist, wenn man harmlose Kritik zur metaphorischen Tötung umdeutet.
Das gelang nicht.
Auf unserem Twitteraccount veröffentlichten wir das Meme am Sonntagnachmittag. Es hatte die Form einer Gegenüberstellung: «Was der Rest der Welt sieht» vs. «Was Michèle sieht». Dazu zwei Bilder. Das Erste zeigte die harmlosen Kritik: «He Michèle das stimmt gar nicht». Das Zweite stellte die Hinrichtungsmetapher dar, in Form der Guillotinierung von Ludwig XVI während der französischen Revolution. Mit Binswangers Kopf anstelle des königlichen Hauptes.
Das mit Absicht drastisch gewählte Bild versagte jedoch schnell in seiner überspitzenden Funktion – zu leicht konnte es von seinem satirischen Kontext getrennt werden. Bereits nach wenigen Stunden wurde es zum Zentrum der Diskussion, da die Guillotinierung nicht mehr als Visualisierung der Hinrichtungsmetapher wahrgenommen wurde, sondern als eigenständige Abbildung ohne die im Begleittext erwähnte Bedeutung.
Das Bild löste somit Assoziationen zu Angriffen auf Journalist*innen aus und hatte das Potential, sich zu verselbstständigen. Damit war es ungeeignet, den satirischen Gehalt des Tweets zu transportieren. Wir erkannten den Fehler, löschten den Post am darauffolgenden Tag und entschuldigten uns bei Michèle Binswanger für das Bild.
Die Eskalation
Damit hätte die Sache erledigt und das Bild aus der Welt geschafft sein können.
Endgültig eskaliert wurde die Situation am darauffolgenden Dienstag von Tamedia-Chefredaktor Arthur Rutishauser. In einem seltsamen Kommentar zum Fall zog er eine direkte Linie von unserem Tweet zu den terroristischen Anschlägen auf die Redaktion des Satiremagazins «Charlie Hebdo».
Damals fühlten sich zwei religiöse Fanatiker berechtigt, wegen der Satire der Zeitschrift zwölf Menschen zu ermorden. Zu Recht pochten dann Medien aus der ganzen Welt auf die uneingeschränkte Satirefreiheit. Selbst wenn sich kriminelle Terrorist*innen zu Gewalttaten legitimiert fühlen: Satire muss ausgehalten werden. Auch wenn sie schlecht ist.
Nun, sechs Jahre später, stellt der Chefredaktor des zweitgrössten Medienkonzerns der Schweiz all das auf den Kopf: Weil unsere schlechte Satire seiner Meinung nach als Legitimation für Gewalt missbraucht werden könne, dürfe sie nicht sein – ja müsse gar bestraft werden. Er kündigte eine Strafanzeige wegen des längst gelöschten Tweets an.
«Je suis Charlie» derart falsch verstehen – das muss man erst mal nachmachen.
Die Verzerrung
Rutishauser warf in seinem Text aber nicht nur mit dieser Verdrehung der «Charlie Hebdo»-Debatte um sich. Er verschwieg (wie schon «20 Minuten» vor ihm) sogar gänzlich den satirischen Kontext unseres Ursprungstweets. Der gestandene Chefredaktor versuchte nicht einmal, seinen Leser*innen zu vermitteln, dass das Guillotinenbild Teil eines einschlägigen Meme-Formats war. Stattdessen tat er so, als wäre das Bild von uns ohne jeglichen Zusatz gepostet worden.
Das ist irreführend.
Diverse andere Medien taten es ihm gleich. Weder «nau.ch», noch «20 Minuten» oder «persönlich.com» hielten es (neben anderen) für nötig, den unmittelbaren Kontext des Bildes wiederzugeben. Die «Weltwoche» liess sich sogar zu der verleumderischen Behauptung hinreissen, wir hätten zur «Köpfung einer Journalistin» aufgerufen.
Als Leser*innen dieser Blätter würden wir uns schlecht informiert – nein – desinformiert vorkommen.
Zum Schluss seines Artikels übertrumpfte uns Arthur Rutishauser dann auch noch in Sachen Geschmacklosigkeit. In einem verharmlosenden Erguss verglich er unser Tun mit den Verbrechen des Nationalsozialismus. Wenige Stunden nach Veröffentlichung des Textes wurde die Passage kommentarlos entfernt.
Die Zukunft
Was bleibt zu sagen nach so einer Eskalation? Zum Beispiel Folgendes:
Der Strafanzeige des 935 Millionen schweren Medienkonzerns schauen wir mit Gelassenheit entgegen. Wir vertrauen darauf, dass die Satirefreiheit in der Schweiz auch für misslungene Werke gilt.
Arthur Rutishauser empfehlen wir, mal eine unserer Zeitungen zur Hand zu nehmen und unsere journalistischen Tätigkeiten zu studieren. Dann wird er uns auch nicht mehr mit einer «anonymen Onlineplattform» verwechseln oder unsere Redaktor*innen als «Aktivisten» bezeichnen.
Falls der Tamedia-Chefredaktor danach immer noch nicht glaubt, dass wir «jungen Leute» handwerklich in der selben Liga spielen wie er, legen wir ihm diesen Tweet vom 2. Mai 2021 wärmstens ans Herz.
Die Rechtsabteilung der Tamedia schliesslich können wir beruhigen. Der Nazivergleich von Rutishauser war zwar eklig und geschichtsvergessen, aber Fehler passieren halt manchmal, auch wenn das nicht alle zugeben können. Wir werden dazu keine Strafanzeige einreichen.
Zwei Tage nach dem Feministischen Streiktag (Frauenstreik) treffe ich Alex (sie) und Miri (sie) im Aussenbereich der Dampfzentrale zum Interview. Die beiden Aktivistinnen haben mit ihrem Kollektiv am 14. Juni auf der Schützenmatte eine Installation aufgestellt. Passant*innen wurden dazu eingeladen, zu basteln und so auszudrücken, wie sie durch patriarchale Strukturen unterdrückt werden. Vor einem Jahr haben wir das Kollektiv schon mal interviewt, damals sprachen wir über ihre Demonstration und wie sie sich als neues Kollektiv organisiert haben. Nun wollen wir ihre (Kunst) Installation beleuchten und fragen: Was hat es damit auf sich?
M*Wer seid ihr?
Wir sind ein Kollektiv, dass sich durch unseren Freundinnenkreis gebildet hat und ursprünglich aus einem Lesekreis entstanden ist. Wir lesen und diskutieren feministische, anarchistische und antirassistische Theorie und Literatur. Angefangen hat alles 2018 als Lesezirkel von Freundinnen. Durch die Auseinandersetzung mit Feminismen und vielen Diskussionen, haben wir uns aus dieser Gruppe heraus gemeinsam für den feministischen Streik am 14. Juni 2019 vorbereitet. Ein Jahr später, im Corona-Jahr, haben wir einen Umzug organisiert (das megafon hat berichtet).
Diese Demo mit so vielen FINTAQ’s und einigen solidarischen Männern hat uns viel Energie gebracht und so entschieden wir uns, ein Kollektiv zu gründen. Im vergangenen Jahr haben wir uns hauptsächlich auf interne Auseinandersetzungen fokussiert und wollten herausfinden, wer wir sind, was wir wollen, wie wir uns organisieren möchten und wie wir in die Öffentlichkeit treten wollen. Vielleicht kam dabei die Praxis etwas zu kurz. Als Kollektiv war die Installation das einzige, was wir in diesem Jahr nach aussen getragen haben.
M* Kam euch die Pandemie dazwischen?
Ja, es war nur schwer möglich Veranstaltungen durchzuführen. Nach der Demo 2020 haben wir uns mit der Frage beschäftigt: «Wie können Cis-Männer sich solidarisch an feministischen Kämpfen beteiligen? Dazu wurde viel diskutiert und als Kollektiv haben wir dann einen Workshop für Cis-Männer konzipiert, diesen konnten wir Pandemie bedingt leider noch nicht anbieten. Uns ist es wichtig, dass Cis-Männer sich mit ihren Privilegien auseinandersetzen und diese kritisch reflektieren. Wie auch wir unsere Privilegien reflektieren müssen, da unser Kollektiv mehrheitlich aus Menschen mit höherer Bildung und bürgerlichem Hintergrund besteht, was unsere Perspektive natürlich auch einschränkt.
M* Was hat es mit eurer Installation auf sich?
Für den feministischen Streiktag haben wir einen Holz Kubus mit violettem Stoff eingefasst und diesen auf die Schützenmatte gestellt. Dazu haben wir einen Tisch mit Bastelzeug und Gegenständen bereitgestellt, die symbolisch für patriarchale Unterdrückungsmechanismen stehen. Highheels, Pushup-BHs, einen Epilierer, parfümierte Binden, Modemagazine, blonde Barbies etc.. Diese Gegenstände konnten die Besuchenden verändern, neugestalten oder auch kaputt machen und dann am Kubus anheften. So veränderte sich im Verlauf des 14. Junis unser Kubus und wurde immer voller mit den verschiedenen Kreationen. Uns ist es aber auch wichtig zu betonen, dass Highheels nicht per se unterdrückend sein müssen, es kann durchaus ermächtigend sein, Highheels und Pushup zu tragen. Aber der Anspruch, der diese Gegenstände auf FINTAQ Personen haben kann, ist oft unterdrückend: Frauen müssen lange Beine haben und elegant sein. Ein BH mit Polster vermittelt die Norm, dass eine Frau grosse Brüste haben müsse.
M* Was war für euch persönlich wichtig an der Installation?
Uns war es wichtig aufzuzeigen, was der Kapitalismus für einen Einfluss auf den weiblichen Körper hat. Dinge wie Menstruation, Blut, Körperhaare und Zellulite werden tabuisiert. Andere Dinge wie grosse Brüste, schmale Taille und enthaarte Beine werden idealisiert. Es war krass, dass die Menschen die mitgebastelt haben, fast alle einen Rasierer an den Kubus angebracht haben. Dies zeigt auf, dass viele Personen die gleichen Unterdrückungserfahrungen machen und wir ein kollektives Verständnis dafür haben, was als Schönheitsideal gilt und was davon abweicht. Ziel dieser Aktion war es, dem resultierenden Leidensdruck Ausdruck zu verleihen. Ansonsten geschieht diese Auseinandersetzung oft auf eine sehr intellektuelle Art und Weise. Wir wollten dies mit alltäglichen Gegenständen veranschaulichen und Besuchenden die Möglichkeit bieten, sich der Thematik kreativ und spielerisch anzunähern.
Eine Person hat eine Barbie mit Kleister neu modelliert, so dass sie nicht diesem kapitalistisch geschaffenen Idealbild entspricht. So hat sie Po, Hüfte und Bauch vergrössert, ihren Hautton verändert und Haare an die glatte Plastik-Haut geklebt.
M* Wieso habt ihr euch für diese Art der Aktion entschieden?
Wir überlegten uns, ob wir eine legale angemeldete Aktion machen oder nicht. Dabei haben wir uns letztendlich für eine Aktion entschieden, die für möglichst viele Menschen zugänglich ist. Freund*innen mit keinem sicheren Aufenthaltsstatus können es sich nicht leisten von Repression betroffen zu sein, weshalb wir einen möglichst niederschwelligen Zugang bieten wollten.
M* Was würdet ihr nächstes Mal anders machen an eurer Installation?
Wir haben uns zu wenig mit anderen Gruppen vernetzt. Wenn wir das getan hätten, wären vielleicht mehr Menschen auf unseren Kubus aufmerksam geworden und so hätten sich mehr Leute beteiligt und es hätte mehr Begegnungen gegeben. Jetzt mit zwei Tagen Abstand müssen wir auch sagen, dass unsere Aktion recht grob angedacht war. Vielleicht wäre es besser gewesen, wenn wir beispielsweise auch zu Care-Arbeit was gemacht hätten. Wir möchten in Zukunft unsere Kämpfe mit anderen Menschen verbinden.
M* Wie geht es weiter?
Wir möchten neue Aktionen planen und unsere Kommunikation verbessern. Momentan haben wir noch keinen Namen und keine offiziellen Kanäle. Wir freuen uns immer wenn neue Mitstreiter*innen uns anschliessen möchten. Falls ihr Interesse habt, könnt ihr euch ja beim megafon melden. Sobald wir eigene Kanäle haben, werden wir uns melden! Stay tuned.
Die selbsternannte Jugendbewegung «Mass-Voll» will den Coronademos einen Anschein von Sachlichkeit verpassen. Doch mehrere Kernmitglieder verbreiten Falschinformationen über die Pandemie oder werben in Verschwörungs-Chats um Mitstreiter*innen. Das ‹megafon› hat die öffentlichen Kanäle von «Mass-Voll» und seinem Kernteam unter die Lupe genommen. Und lauter Widersprüche gefunden.
Es ist Freitag, der 26. Februar 2021, kurz vor halb acht. Der Luzerner FDP-Politiker und AUNS-Vorstand Nicolas Rimoldi setzt eine Nachricht in den Telegram-Kanal ab, den er genau einen Monat zuvor gegründet hat. «Jetz simmer da. Nach Wuche intensivem Schaffe gömmer live! Es ish Ziit, dass d Jugend sech wehrt.» Es ist der Tag an dem die selbsternannte ‹Jugendbewegung› «Mass-Voll» erstmals öffentlich auftritt. Das Ziel: Alle Massnahmen zur Bekämpfung des Coronavirus sollen sofort beendet werden. Ungeachtet der epidemiologischen Lage. Egal wie voll die Spitäler sind.
Um dieses Ziel zu erreichen, gibt sich das ursprünglich drei und mittlerweile sechzehn Personen umfassende «Kernteam» um Rimoldi betont gemässigt. «Wir sind sachlich und evidenzbasiert, keine Verschwörungstheorien», lautet eine der Regeln im Telegram-Chat. Nach einer Demonstration in Chur vom 6. März, bei der etwa 4000 Menschen gegen die Corona-Massnahmen protestierten, lässt sich Rimoldi im «Blick» zitieren: «Verschwörungstheorien und Extremismus haben bei uns ausdrücklich nichts verloren».
Doch dieser Schein trügt.
Wie Recherchen des ‹megafon› zeigen, verbreiten Kernmitglieder von «Mass-Voll» absurde Falschinformationen und teilweise sogar Verschwörungserzählungen über die Pandemie. Rimoldi selbst warb zum Start der «Bewegung» aktiv in einem Verschwörungskanal für die Gruppe. Und mehrere Personen des Kernteams scheinen rechtsextremen Akteuren und Inhalten näher zu sein, als die Gruppe nach aussen vorgibt.
Das alles merkt freilich nicht, wer erst seit dem öffentlichen Auftreten von «Mass-Voll» in ihren Kanälen mitliest. Scrollt man aber etwas weiter zurück und schaut sich die Aktivitäten der Kernmitglieder auf anderen Kanälen an, offenbart sich schnell ein anderes Bild.
Der «Mass-Voll»-Account: Zentralbanken, die Fake-Pandemie …
Am offensichtlichsten zeigt sich dies in Posts des offiziellen «Mass-Voll»-Accounts, keine vier Wochen vor dem Gang an die Öffentlichkeit. Als am 31. Januar in Wien und Berlin Grossdemonstrationen gegen die Corona-Massnahmen stattfinden, postet ein*e Admin zwei Videos in den «Mass-Voll»-Chat. Diese stammen nicht von «Mass-Voll» selbst, sondern aus zwei anderen Telegram-Kanälen mit den klingenden Titeln «Great Awakening DE» und «Great Awakening Official». Beides Anspielungen auf das in QAnon-Kreisen erwartete «Grosse Erwachen». In den «Mass-Voll»-Chat wurden die Videos mit der Weiterleitungsfunktion von Telegram geteilt.
Das eine Video zeigt die Demo in Berlin und hat ansonsten nicht viel Inhalt. Im Begleittext wird es aber schnell wirr: «Nach Wien nun tausende Kerzen gegen den Bankenterror in Berlin! […] Tausende Protestierende stehen in Berlin mit Kerzen in ihren Händen auf und demonstrieren gegen den internationalen Zentralbanken-Kartell-Terror und die Fake-Pandemie!»
Ähnlich klingt es im Begleittext zum anderen Video, das Bilder aus Wien zeigt: «Wien 31.01.2021, das ist historisch! Die letzten Tage des von kriminellen Zentralbanken geführten, korrupten, europäischen Lockdown-Regimes!»
Das Video aus Berlin stammt ursprünglich vom deutschen Verschwörungsideologen und Youtuber «Aktivist Mann», der sich am Ende des Clips mit Namen verabschiedet. In seinem Telegram-Kanal wird unter anderem behauptet, dass Masken und Teststäbchen mit Parasiten, sogenannten «Morgellons», verseucht seien.
Wusste «Mass-Voll» vom zweifelhaften Ursprung des Videos? Vielleicht nicht.
Kümmert es sie, wessen Propaganda sie mit solchen Videos weiterverbreiten? Offensichtlich nicht.
… und Desinformation von ‹QanonStormBase›
Nur drei Tage später legt der «Mass-Voll»-Account nach. «Die schreckliche Wahrheit hinter dem Corona-Terrorismus!», lautet der Begleittext zu einem Video, in dem Dolores Cahill, Medizinerin des University College in Dublin und ehemalige Vorsitzende der rechten Kleinstpartei «Irish Freedom Party», abenteuerliche Falschbehauptungen über mRNA-Impfungen verbreitet.
Darin behauptet Cahill, dass rund 80% der Geimpften in der Altersklasse über 75 aufgrund der mRNA-Impfstoffe eine Autoimmunerkrankung entwickeln würden, welche «life-limiting events» oder sogar den Tod zur Folge habe. Das Dubliner University College hatte sich bereits im Juni 2020 von den unwissenschaftlichen und allesamt widerlegten Aussagen Cahills distanziert.
Auch dieses Video stammt nicht von «Mass-Voll» selbst, sondern wurde aus einem anderen Chat weitergeleitet. Sein Ursprung: Der tief im Verschwörungssumpf verortete Telegram-Kanal ‹QAnonStormBase›.
Ob Mitglieder des «Mass-Voll»-Kernteams selber in diesen QAnon-Chats sitzen, lässt sich nicht feststellen. Es ist gut möglich, dass die Videos in einen anderen Kanal geteilt, dort von «Mass-Voll»-Administrator*innen entdeckt und schliesslich in den eigenen Chat weitergeleitet wurden. Auch wer genau die Videos weitergeleitet hat, ist nicht mit Sicherheit festzustellen. Aller Wahrscheinlichkeit nach handelt es sich aber entweder um Nicolas Rimoldi, Ben B., Daria B. oder Carla W. Diese vier Personen nennt Rimoldi drei Tage nach dem Impfvideo von Cahill als jene, die für «Mass-Voll» gerade «Organisation planen und Mittel organisieren».
Fakt bleibt aber: Weder der unwissenschaftliche Inhalt des Impfvideos, noch die offensichtlichen Verschwörungserzählungen in den Begleittexten und Ursprungs-Chats haben «Mass-Voll» davon abgehalten, die Nachrichten zu verbreiten.
Nicolas Rimoldi: Werbung im Verschwörungskanal
Nicolas Rimoldi ist einer der Initiator*innen und Co-Präsident des Vereins «Mass-Voll», welcher nach seiner Vorstellung ursprünglich «Libertas» heissen sollte. Er ist neben seinen FDP- und AUNS-Mitgliedschaften Verantwortlicher für Marketing und Onlineredaktion bei der Zeitschrift «Schweizer Monat» und provoziert auf Twitter gerne mit harter Polemik.
Um seine «Bewegung» gross zu machen, zeigt er keine Scheu, auch im wissenschaftsferneren Teil der Coronademo-Szene Werbung zu machen. So postete er im von Verschwörungserzählungen nur so strotzenden Chat «Open Mind-Community» die Einladungsnachricht für seinen unmittelbar vorher live gegangenen «Jugendverein».
Neben der eigenen Werbung im Verschwörungsteil der Corona-Skeptiker*innen freut sich Rimoldi auch über Aufmerksamkeit von Grössen der Verschwörungsszene. Im «Mass-Voll»-Chat postete Rimoldi einen Screenshot, der den Kanal des QAnon-Anhängers Xavier Naidoo zeigt. Naidoo hatte dort einen Post von «Mass-Voll»-Mitglied Joyce Küng für seine 112’000 Abonnent*innen geteilt. Der geteilte Post zeigt einen Tweet von Rimoldi selbst. Rimoldis Kommentar zu dieser zweifelhaften Ehre: «Geil».
Durch alles andere als der neuerdings propagierten Sachlichkeit fiel Rimoldi bereits vor der Lancierung von «Mass-Voll» auf. So verglich er einen gelben Zettel, den er bei einer Reise mit den Jungfrau-Bahnen erhielt, um auf sein Maskenattest hinzuweisen, mit den Judensternen im nationalsozialistischen Deutschland. In einem Tweet kommentierte er eine ähnliche Massnahme im Skigebiet Laax mit «fehlt nur noch eine Armbinde für Nicht-Geimpfte». Und zu einem «Bild»-Artikel über ein sich in Planung befindliches Gefängnis für Quarantänebrecher*innen im deutschen Sachsen schrieb er: «Deutschland baut wieder Lager.»
Daria B.: Corona ist gar nicht ansteckend
Ein frühes Kernmitglied von «Massvoll» ist auch Daria B. Gemäss Website von «Mass-Voll» ist ihr Aufgabenbereich die «Leitung Social Media». Besonders sorgfältig scheint sie dabei aber nicht vorzugehen.
So postete Daria B. im bekannten «Corona Rebellen Chat» weitere widerlegte Behauptungen von Dolores Cahill, wonach inhalative Steroide, Hydroxychloroquin und Zink wirksame Therapien gegen Covid-19 darstellten. Begleitet wird das Video von der wirren Behauptung, die WHO habe «eine Kehrtwende vollzogen», sage nun, dass «Corona-Patienten weder isoliert noch unter Quarantäne gestellt» werden müssten, und dass das Virus «nicht einmal von einem Patienten auf einen anderen übertragen werden» könne.
Auch dieses Video wurde aus einem anderen Kanal weitergeleitet. Der Titel des Ursprungschats: «Flache Erde Deutschland».
Lea M.: Verschwörungsgeraune für Kanti-Schüler*innen
Lea M. ist das vermutlich jüngste Mitglied des Vereins und wird als einziges Kernteam-Mitglied nur mit Vornamen auf der Website gelistet. Der Aufgabenbereich der 17-jährigen bei «Mass-Voll» wird als «Projekte & Social Media» angegeben. Auf der Webseite des Vereins ist auch ihr Instagram-Profil verlinkt: Ein Account mit dem Namen «wearenotokwiththis.kzo», welcher sich wohl an Schüler*innen der Kantonsschule Zürcher Oberland richtet.
Dort werden neben Demoaufrufen und Zeitungsartikeln auch Falschinformationen und zweifelhafte Andeutungen verbreitet. Auf einem abgebildeten Flyer wird gesagt, dass von den Behörden eine «andere Agenda» verfolgt werde, dass es sich um «international koordinierte Korruption» handle. Auf einem weiteren Flugblatt steht, dass es keine zweite Welle gäbe und dass «die Pandemie faktisch beendet» sei.
Auch ein Video des tief in Verschwörungserzählungen abgerutschten deutschen Musikers Michael Wendler wird gepostet, in welchem er von «gleichgeschalteten» und «politisch gesteuerten» Medien spricht und für seinen Kanal wirbt. Wendler betreibt einen Telegram-Kanal mit knapp 161’000 Abonnent*innen, auf dem er unter anderem von der «Firma BRD» spricht und die Mär der parasitenverseuchten Teststäbchen verbreitet.
Manuela A.: Tödliche mRNA-Impfungen und «Der Sturm»
Auch Manuela A. («Leitung Kommunikation»), nimmt es mit der kritischen Quellenanalyse nicht so genau. In den «Mass-Voll»-Chat postete sie einen Link auf die Website hpv-vaccine-side-effects.com. Die Artikel dort tragen reisserische Titel wie «Warum sind mRNA Impfungen so gefährlich?» oder «Wieso Menschen wenige Monate nach der mRNA Impfung womöglich sterben werden» und entbehren jeglicher Wissenschaftlichkeit.
Auch auf ihrem Facebookprofil hantiert Manuela A. mit zweifelhaften Quellen. Dort verlinkt sie unter anderem Russia Today (ein russischer Staatssender), Daniele Ganser (ein Schweizer Verschwörungsideologe) und Unzensuriert.at («äusserst fremdenfeindlich», «antisemitische Tendenzen» und «verschwörungstheoretische Ansätze», so das Österreichische Bundesamt für Verfassungsschutz und Terrorismusbekämpfung).
A. ist zudem Mitglied im Telegramchat «Der Sturm», welcher zuletzt wegen rechtsextremistischen Aufrufen zu Gewalt und «führerlosem Widerstand» im Fokus der Öffentlichkeit stand. Sie trat dem Chat am 14. Januar bei, womöglich über einen kurz zuvor geposteten Verweis im «Corona Rebellen Chat». Gegründet wurde «Der Sturm» einen Tag vorher, am 13. Januar.
Ob Manuela A. über den extremistischen Hintergrund des Chats Bescheid wusste, lässt sich nicht beantworten. Als grösstenteils inaktives Mitglied postete sie lediglich zwei Nachrichten in den Chat. Dass sie nach mehreren Medienberichten über die Gruppe, eindeutigen Gewaltaufrufen und Anleitungen zum «totalen Widerstand» immer noch Teil von «Der Sturm» ist, hinterlässt aber einen fahlen Beigeschmack. Neben «Der Sturm» und «Mass-Voll» ist A. auch Mitglied in den von Desinformation und Verschwörungserzählungen geprägten Chats «FreaKsTeamQ» und «Widerstand2020».
Joyce Küng: Fundamentales Christentum …
Eine interessante Besetzung für das Kernteam von «Mass-Voll» stellt die Multimediaproduzentin und Inhaberin einer Marketingagentur Joyce Küng dar. Sie war Gründungsmitglied des Vereins «Bürgerforum Schweiz», welcher im letzten Jahr Demonstrationen gegen die Coronamassnahmen organisierte. Sie trat dort gemeinsam mit Daniel Regli als Teil der Vereinsleitung auf. Regli wiederum war bis Anfang April 2021 Präsident des Vereins «Marsch fürs Läbe» und fiel im Zürcher Gemeinderat mit schwulenfeindlichen Aussagen auf. Mittlerweile wird Küng auf der Website des «Bürgerforums» nicht mehr erwähnt.
Zusätzlich zu ihrem Engagement bei «Mass-Voll», wo sie die Leitung des «Content-Teams» innehat, betreibt die Corona-Aktivistin erster Stunde einen eigenen Telegram-Kanal. Dort verbreitet Küng neben Hinweisen auf Demos und allgemeinen Kommentaren zum Weltgeschehen auch seltsam anmutende Andeutungen auf ‹versteckte› Zusammenhänge sowie Links auf ausgewachsene Verschwörungsseiten.
So postete sie beispielsweise ein Bild, das vermeintliche «Pädo-Zeichen» auf einem Coop-Papiersack zeigt – dreieckige Zeichnungen, die Logos aus der pädokriminellen Szene ähneln. Dazu die Frage: «Was denkt ihr, ist die Verpackung zufällig oder bewusst gewählt? Ich bin immer etwas vorsichtig mit solchen Themen, denn keiner würde zugeben, so was bewusst in einer Marketingstrategie umzusetzen. […]»
… die Illuminaten …
An anderer Stelle thematisiert Küng die Tatsache, dass Bundesrat Alain Berset bei verschiedenen Instagram-Posts der Neuenburger Kunstgalerie ‹Galerie C› Likes hinterlassen hat. Unter anderem bei Bildern des Wiener Künstlers Gottfried Helnwein. Über diesen sagt Küng zum Schluss ihres Videos: «Der Künstler sagt auf ORF, dass er für das Gute steht und einfach nur aufmerksam machen will, aber seine ganze Symbolik ist von diesen Illuminaten. OK. Lassen wir mal so stehen.» Mit ironischem Unterton fügt sie an: «Und unser Bundesrat Berset liket seine Bilder. OK. Kein Problem. Kann ja passieren».
Von Bersets Instagram-Likes schlägt Küng einen Bogen zur «Symbolik» in der Kunst allgemein und verlinkt dazu die Website vigilantcitizen.com. Diese bezeichnet sie als ihre «erste Truther-Webseite», die sie seit 2009 verfolge. Auf der Seite werden Verschwörungserzählungen verschiedener Art verbreitet. So etwa ein Artikel über die WHO, welche angeblich die Covid-19-Pandemie benutze, um eine «New World Order» nach dem Vorbild Chinas zu schaffen. Der Artikel den Küng verlinkt, dreht sich um Britney Spears, welche angeblich im Alter von 13 Jahren in das «Illuminati mind-control system» von Disney gezogen worden sei.
… und ein Rechtsextremist
Küng pflegt zudem ausgezeichnete Kontakte zu wichtigen Playern der Coronademo-Szene. Der vielerorts aktive Schweizer Verschwörungsideologe mit dem Pseudonym «Luitpold von Zähringen» wurde von Joyce Küng persönlich zum «Mass-Voll»-Chat hinzugefügt. Ebenso eine Administratorin des seit April 2020 existierenden und für die Bewegung wichtigen «Corona Rebellen»-Chats.
Am 27. Dezember traf sich Joyce Küng zudem zu einem mehrstündigen Gespräch mit dem Rechtsextremisten Ignaz Bearth – dem sogenannten «Auslandbeauftragten» der PNOS. Dieser betreibt einen stark nach Deutschland ausgerichteten Telegram-Kanal, in welchem er allerlei Desinformation und Propaganda verbreitet. Der Inhalt des dreistündigen Gesprächs zwischen Küng und Bearth ist nicht bekannt – eine Aufzeichnung des Streams ist nicht mehr verfügbar.
Küng arbeitet seit April 2021 für den «Schweizer Monat», wo auch Rimoldi tätig ist.
Tobias A.: Es ist gar keine Epidemie
Ungewohnt deutlich wird Tobias A., der bei «Mass-Voll» für Kommunikation und Merchandise verantwortlich ist. Nachdem am 31. März ein belgisches Gericht in erster Instanz entscheidet, dass für die dortigen Gesundheitsmassnahmen die gesetzliche Grundlage fehlt, wird im Chat rege über das Ereignis diskutiert.
Auf die vielfach geäusserte Hoffnung, dass ein ähnliches Urteil auch in der Schweiz möglich sein könnte, schreibt ein User, dass ein solches Urteil in der Schweiz nicht passieren könne, da das Epidemiengesetz die nötige Grundlage für die Massnahmen bilde. Tobias A. sieht das anders – mit bemerkenswerter Begründung. Er antwortet: «Nein. Keine Epidemie!».
Die Äusserung bleibt unwidersprochen.
Olivier Chanson: Hanau war kein Terroranschlag
Ein weiteres Kernmitglied von «Mass-Voll» ist Olivier Chanson – ehemaliger Vorstand der JSVP Zürich Sektion West/City. Der Jungpolitiker tritt im Telegram-Chat nicht mit echtem Namen auf. Bei der «Jugendbewegung» ist er für Multimedia und Grafikdesign zuständig.
Ein Blick auf sein Profil auf der Wahlempfehlungsplattform Vimentis gibt einen deutlichen Eindruck seiner politischen Ausrichtung. Dort schreibt er: «Der demografische Wandel (auch Bevölkerungsaustausch genannt) muss endlich angesprochen und als Problem für unsere Gesellschaft & Kultur erkannt werden».
Der Begriff des «Bevölkerungsaustauschs» dürfte dabei kaum zufällig gewählt sein. Er ist in rechtsextremen Kreisen beliebt und bezeichnet die Vorstellung, dass die Bevölkerung westlicher Länder durch Zuwanderung ‹ausgetauscht› werde und bald eine Minderheit darstelle. Wahlweise sei dies ein gezielter Plan angeblicher ‹Eliten› oder auch nur eine direkte Folge von Migrationsströmen. Sowohl der rechtsextreme Attentäter von Christchurch wie auch der Rechtsterrorist, der in Halle zwei Personen ermordete, verwendeten die Begriffe des «Bevölkerungsaustauschs», respektive des «Grossen Austauschs».
Auch die Facebookseite von Olivier Chanson lässt tief blicken: Dort leugnet er ungeniert den rechtsextremen Hintergrund des Terroranschlags in Hanau. So schreibt er zu einem Bericht des SRF über rechte Terrorereignisse in Deutschland, dass in Hanau «ein Amoklauf aber kein rechter Terroranschlag» stattgefunden habe. Als weiterführende Lektüre empfiehlt er einen Artikel des rechtsextremen Magazins «Info-Direkt» («Das Magazin für Patrioten»), welches von den «herrschenden Eliten» spricht, die die Tat von Hanau für «politisches Kleingeld» instrumentalisieren würden. Das Magazin widmete der Erzählung des «Grossen Austausches» im Jahr 2016 ein ganzes Heft.
Bürgerliche Schale, zweifelhafter Kern
Was bleibt also übrig von den Selbstzuschreibungen der «Bewegung»?
«Wir sind sachlich und evidenzbasiert»
«Verschwörungstheorien und Extremismus haben bei uns ausdrücklich nichts verloren»
Man muss nicht allzu tief graben, um diese Behauptungen als das zu entlarven, was sie sind: Gutes Marketing. Rimoldi und seine Mitstreiter*innen haben begriffen, dass die Bewegung der Corona-Skeptiker*innen ein massives Imageproblem hat, dem nur mit einem Anschein von Sachlichkeit, Wissenschaftlichkeit und vorgeblicher Distanzierung von Verschwörungserzählungen und Extremist*innen begegnet werden kann.
Dass fast die Hälfte der «Mass-Voll»-Kernmitglieder im besten Falle NS-Vergleiche zieht und im schlechtesten selbst Desinformation und Verschwörungserzählungen verbreitet, scheint dabei egal zu sein. Hauptsache die Fassade steht.
Die Kampagne 500k.ch sammelt Geld, um damit die Prozesskosten rund um die «Basel Nazifrei»-Demo von 2019 zu finanzieren. Die Staatsanwaltschaft hat sich nämlich nicht lumpen lassen und in allen bisherigen Prozessen extrem hohe Strafen – von Gefängnis- über Bewährungs- bis hin zu Geldstrafen – gefordert. Das Basler Strafgericht ist diesen Anträgen oft gefolgt. Dementsprechend teuer bezahlen die Verurteilten: Wenn man als Mensch ins Gefängnis muss oder einem zehntausende Franken aus der eigenen Tasche gezogen werden, bedeutete das oft den sozioökonomischen Ruin. Soziale Kontakte reissen ab, man wird gesellschaftlich stigmatisiert und traut sich nicht mehr so einfach an eine Demo, selbst wenn das Anliegen noch so wichtig ist.
Hier setzt 500k.ch an. Um gegen die Urteile der Strafjustiz vorzugehen und vor höheren Instanzen Freisprüche oder zumindest Milderung zu erreichen, braucht es Geld. Denn Einspruch zu erheben kostet: Anwält*innen müssen bezahlt, Tickets für Anhörungen und Prozesse müssen gelöst werden. 500k.ch gründete sich 2020, als klar wurde, woher der richterliche Wind bläst: Hin zu möglichst harten Strafen, die abschrecken und einschüchtern sollen. Eine kleine Gruppe von solidarischen Menschen aus Zürich begann, an einer grossangelegten Spendenkampagne herumzudenken, um die über 40 Angeklagten zu unterstützen – finanziell, aber auch moralisch. Im grossen Zürich kennt man sich wie in Bern auch. Es gibt vielleicht keine Reitschule. Aber die Vernetzung lebt, was 500k. eindrücklich beweist: Aus verschiedensten Ecken in Zürich begannen die Menschen, aktiv an 500k.ch mitzuarbeiten. Sei es mit Design-Vorschlägen, dem Drucken von Motiven auf Kleidungsstücken, mit Medien- und Öffentlichkeitsarbeit, dem Gestalten einer professionellen Webseite, dem Schreiben von Spendenbriefen, dem Aufstellen von 200 Spendenbüchsen in (leider fast immer geschlossenen) Restaurants und Bars, mit dem Vertrieb eines Solidaritäts-Bier, mit einem Instagram-Account mit tausenden Followern.
Fussballszene, Kunst- und Design-Kuchen, Revolutionäre aus verschiedenen Polit-Gruppen, Hippies, Experimentierende, Direktbetroffene und Solidarische spannten zusammen und erreichten damit grosse Aufmerksamkeit in der Schweizer Öffentlichkeit. Comedians wie Lara Stoll oder Dominic Deville, die Wochenzeitung WoZ, die Republik oder Schweiz Aktuell berichteten über «Basel Nazifrei» und 500k.ch. Sie brachten die Problematik der Kriminalisierung von antifaschistischem Engagement zu einem breiten Publikum.
500k.ch setzt auf die Zivilcourage der Bevölkerung und aktiviert das linksliberale Milieu. Das Bündnis, das sich diesem einen Zweck verschrieben hat, versucht das Geld dort zu holen, wo es liegt: Bei Menschen in diesem Land, die der Polizei und der Justiz kritisch begegnen und nicht alles glauben, was «Recht» ist – und vielleicht nicht selber an einer Demo gegen Faschist*innen gehen. Solidarisch sein können sie aber auch, indem sie spenden und ihren Blick nicht gleich wieder abwenden, wenn die grosse Spendenbüchse gefüllt ist. Wann das sein wird, ist nicht klar. Nur so viel lassen die Aktivist*innen hinter 500k.ch durchblicken: Trotz Pandemie, die vieles verunmöglichte, trotz der enormen Kosten, die da kommen, es läuft gut. Sehr gut sogar. Die Prozesse werden noch lange dauern: Viele Angeklagte werden vor die nächste und übernächste Instanz ziehen, wenn es sein muss. Es kann also gar nicht gut genug laufen.
Gestern: 15.03.21 in Bern beim Bollwerk.
Eine Velodemo gegen Polizeigewalt um 18.00 Uhr fand zwar statt, wurde aber innerhalb von wenigen Minuten von Polizist*innen eingekesselt. Die rund 30 Personen hielten sich an Abstände und Sicherheitsmassnahmen, bis der Kessel durch die Polizist*innen enger getrieben wurde. Zu keinem Zeitpunkt wurde den Fahrer*innen die Gelegenheit gegeben, den Umzug aufzulösen – eine Aufforderung dazu blieb ebenfalls aus. Alle anwesenden Personen erhielten aufgrund angeblicher Verstösse gegen die Covid-Ordnung eine Anzeige und wurden anschliessend weggewiesen. Mindestens eine Person vor Ort teilte dem Megafon mit, dass die Polizei auch mutmassliche Strassenverkehrsdelikte ahnden könnte. Zwei Stunden lang hielt die Kantonspolizei die Strasse beim Bollwerk gesperrt.
Wie Bilder belegen, wurde ein*e Velofahrer*in durch einen Beamten zu Boden gestossen.
War dieses übertrieben repressive Vorgehen wirklich nötig, KaPo Bern?
Zur Erinnerung: Filmt die Polizei! Falls du Bilder von Polizeigewalt aufgenommen hast, kannst du sie uns direkt zukommen lassen.