Die Corona-Krise hat unter anderem viele bereits bestehende Missstände verstärkt. Die Kluft zwischen Arm und Reich vergrössert sich kontinuierlich, verschwörungstheoretische und rechtsextreme Ideologien erfahren einen Aufschwung, Nationalismus und Eurozentrimus (2) haben wieder stark an Bedeutung gewonnen. Gerade der Krieg in der Ukraine deckt mal wieder auf eine frappante Art die Scheinheiligkeit der Migrationspolitik auf. Im Gegensatz zu anderen Geflüchteten, werden Menschen mit ukrainischem Pass in den EU-Ländern wie auch der Schweiz mit offenen Armen empfangen. In der Schweiz bekommen sie einen S-Ausweis: eine Aufenthalts- und Arbeitsbewilligung. Der Schutzstatus S existierte zwar bereits zuvor, jedoch wurde er noch nie in Gebrauch genommen. Ukrainer*innen werden aufgenommen, dürfen studieren oder arbeiten und ein menschenwürdiges Leben führen. Sie bekommen, was allen flüchtenden und geflüchteten Menschen zustehen sollte. Warum also gilt dasselbe nicht auch für Afghaner*innen, Syrier*innen, Bangladescher*innen, Kurd*innen und so viele andere Menschen? Einen grossen Einfluss haben dabei unter anderem Euro- wie auch Ethnozentrismus (3), Islamophobie, Rassismus, Post-Kolonialismus (4) und Kapitalismus. Gerade die Abstimmung zur Finanzierung von Frontex zeigte einmal mehr auf wie viel Geld der Staat dafür aufwendet, die Grenzen abzudichten.
Menschen werden aufgrund ihrer Herkunft anders behandelt. Es wird mir einmal mehr bewusst, dass Nationalismus und grenzenlose Solidarität unvereinbar sind. Sind nicht gerade Camps unter anderem ein Mittel, Menschen zwar am Leben, aber weiterhin in einer vulnerablen und leicht auszubeutenden Situation zu halten? Meist werden Lohnarbeit wie auch eine würdige Zusammenkunft mit der lokalen Gesellschaft verunmöglicht. Mit diesen Gedanken im Kopf stolperte ich in der Bibliothek über ein Buch, das diese Fragen aufgreift und an Lösungen mitspinnen will.
Dabei handelt es sich um einen von zwei Forschenden (Robin Cohen und Nicholas Van Hear) erarbeiteten Vorschlag einer transnationalen politischen Einheit namens «Refugia». Ähnlich einem konföderalen System handelt es sich dabei um von Nationalstaaten und lokalen Behörden genehmigte oder stillschweigend geduldete Gebiete, in denen die Ansiedlung von geflüchteten Menschen heute bereits gefördert oder zumindest akzeptiert wird; auch «Somewherelands» genannt. Die Idee von Refugia, wäre somit, dass sich diese Siedlungen zu einer zu den existierenden Nationalstaaten alternativen Gesellschaft zusammenschließen, welche auf Autonomie und Selbstversorgung basiert.
Autonomie in diesem Sinne heisst, dass sich Refugia unabhängig von den Nationalstaaten versorgen kann. Dies kann ein Schutz gegen die Ausbeutung von Menschen und Ressourcen darstellen, welche durch die Profitgier der Nationalstaaten entsteht. Die beiden Autor*innen sprechen dabei unter anderem von Rojava und Exarchia:
Als autonome und mehrheitlich kurdische Enklave in Nordsyrien, beruht Rojava auf den Grundsätzen der direkten Demokratie, der Nichtdiskriminierung in Bezug auf die ethnische Zugehörigkeit, der Gleichstellung der Geschlechter, der Religionsfreiheit und anderen bekannten Aspekten der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte. Auch im Exarchia-Viertel in Athen, existieren mehrere Squats / Hausbesetzungen, in welchen mit autonomen und anarchistischen Wohnformen experimentiert wird und einem Verhaltenskodex, der keine Toleranz für Sexismus, Rassismus oder Missbrauch kennt. In solchen Squats leben zum Beispiel Familien in privaten Räumen, können arbeiten, und die Kinder griechische Schulen besuchen. Diese Squats sind ein Gegenbeispiel zu den Camps; sie stellen eine neue Gemeinschaft des Zusammenlebens dar und somit vielleicht auch eine Vorstufe von Refugia.
Das Ziel von Refugia wäre im Wesentlichen der Aufbau einer postkapitalistischen Gesellschaft durch eine gewaltlose Abtrennung von Nationalstaaten und deren kapitalistisches Wirtschaftssystem.
– Da möchte ich kurz was hinzufügen: ich bin immer wieder erstaunt, wie viele Menschen ausserhalb meiner Bubble (5) Kapitalismus oft mit Wirtschaft gleichsetzen. Dabei hat sich die Ursprungsbedeutung dieses Begriffs geändert: Kapitalismus ist eine Geldwirtschaft, gewiss, aber eine die auf Privateigentum an Produktionsmitteln und Profitmaximierung beruht. Hierbei erhalten die lohnabhängigen Arbeitnehmer*innen nicht den Erlös des Produkts als Lohn, sondern bloss einen Teil ihrer geleisteten Arbeit. Obwohl wir nun nicht mehr zu Zeiten der industriellen Revolution in England leben, sondern in einer digitalisierten Welt, wobei viele Privatpersonen, insbesondere in reichen Ländern, selber zu Kapitalist*innen werden können (zum Beispiel in Form von Anlegungen am Aktienmarkt), ist das Problem der Ausbeutung nicht verschwunden. Im Gegenteil, Betrug, Diebstahl und Korruption im Sinne des Profits, erzeugen und basieren auch weiterhin auf Ausbeutung. Auch wurde die Ausbeutung, die zum Beispiel. Marx in England beschrieb, in andere Regionen der Welt ausgelagert.
Was mich an der Idee zu Refugia fasziniert hat, ist, dass dieses Konzept eine mögliche Co-Existenz zwischen zwei total unterschiedlichen Wirtschaftssystemen vorschlägt und somit auch einen Mittelweg zwischen Revolution und Reformismus darstellen könnte. –
Gemäss den Autor*innen (6), würden die konstituierenden Zonen von Refugia dennoch bestimmten Gesetzen unterliegen, die zwischen den Vertreter*innen von Refugia und den «Gast-Staaten» dieser Somewhereland-Zonen diskutiert werden müssten. Intern sollte Refugia aber so direktdemokratisch und so basisdemokratisch wie möglich sein. Das heißt, tägliche offene Versammlungen basierend auf Konsens in den kleinen Kommunen. Was grössere Kommunen betrifft, werden, der Organisation wegen, Zufallsauswahlen mit sehr kurzen Amtszeiten vorgeschlagen, um möglichst eine Machtkonzentration zu verhindern – was allerdings kritisch betrachtet werden kann. Außerdem würde die Teilnahme von jungen Menschen gefördert und es sollte völlige Gleichberechtigung zwischen den Geschlechtern bestehen. Hinter dem Konzept von Refugia steckt schliesslich auch der Wille, das entmenschlichende Bild, welches dem Begriff «Flüchtlinge » angehängt wird, zu zerstören und den Aufbau einer Welt voranzutreiben, welche nicht auf Privilegien, Unterdrückung, Diskriminierung und Ausbeutung basiert. Somit dürften alle Menschen, gleichgültig aus welchem Grund, Teil von Refugia sein.
Als Mittel zur Organisation wird dabei unter anderem der Sesampass vorgeschlagen. Dies kann eine Karte, eine Anwendung oder ein Chip sein, welcher alle Bereiche und Knotenpunkte von Refugia auf lokaler, aber auch auf transnationaler Ebene, verbindet. In erster Linie könnte eine solche Karte zum Beispiel Abstimmungen vereinfachen, einen für die Nationalstaaten rechtlicher Status, bzw. Pass, darstellen und somit vielleicht endlich das Konzept von Grenzen verfließen lassen. Auch könnte ein digitales System wie der Sesampass Umverteilung in einer post-kapitalistischen Gesellschaft vereinfachen. Zu diesem Zweck wird mit der Idee von Refugia vorgeschlagen, dass Arbeitsguthaben oder «Credits» anstelle von (Bar-)Geld auf dem Sesam-Pass registriert werden. Diese Credits sollten die Arbeit berücksichtigen, die in kapitalistischen Gesellschaften unterschätzt wird (zum Beispiel Care-Arbeit (7) und grüne Projekte). Das bedeutet, dass nicht ein bestimmter Marktwert bestimmt, wie viele Credits jemensch bekommt, sondern die Zeit, die eine Person mit verschiedenen Beschäftigungen verbringt. Da die Beschäftigungen jedoch für das Kollektiv sind, und alle über unterschiedliche Kapazitäten verfügen, würde ein Überfluss an Credits (bzw. was nicht zum Leben gebraucht wird) an andere Personen oder Kommunen umverteilt werden.
Ob ein solches System von kapitalistischen Nationalstaaten toleriert würde und gewaltlos funktionieren könnte, ist unklar und eventuell unrealistisch. Dazu gilt es auch zu kritisieren, dass durch die Selbstversorgung die finanzielle Verantwortung alter Kolonialmächte gegenüber flüchtenden Menschen abgenommen wird.
Dieser Artikel hat weder zum Ziel eine Debatte zwischen revolutionären und reformistischen Ansätzen darzustellen, noch sich anzumassen eine simple Lösung aufzuzeigen. Er ist nichts Weiteres als ein Beitrag, um über Wege nachzudenken, wie ein tatsächlich solidarisches Zusammenleben realisierbar wäre und es aussehen könnte. Denn sei Refugia nun Utopie oder Realität oder etwas dazwischen, inspirierend sind die Reflexionen und Diskussionen, die aus einer solchen Idee entstehen und dazu beitragen können, Utopien zu Realitäten werden zu lassen. Wir leben in einem System, welches durch seinen Zerfall geradezu nach Utopien schreit. Warum also nicht über Utopien nachdenken, diskutieren und sie weiterentwickeln?
Refugia könnte dabei ein weiterer Denkansatz hin zu einer post-kapitalistischen und basisdemokratischen Gesellschaft sein.
Glossar
1 Chomsky. (1998). Profit over People : Neoliberalism and Global Order. Seven Stories Press.
2 Eurozentrimus: Weltsicht, die Europa als Mittelpunkt der Weltkultur, der Geschichte, der Wirtschaft usw. betrachtet, oder die alles durch die Brille europäischer Werte, Einstellungen und Interessen sieht: (vgl. dictionary.com)
3 Ethnozentrismus: die eigene Kultur so zu leben, als sei die die universelle Norm; ohne Rücksicht auf andere Kulturen. (vgl. William Graham Sumner)
4 Vgl. z.B. «Kultur und Imperialismus» von E. Said
5 Bubble (engl.) = Filterblase (dt.) und/oder soziales Umfeld (in diesem Kontext).
6 Cohen, 2017: S. 3
7 Unbezahlte und (oft schlecht) bezahlte Pflege-, Betreuungs-, und Hausarbeit.
Literatur:
– Cohen, R. et Van Hear, N. (2020). Refugia. Radical Solutions to Mass Displacement. New York : Routledge.
– Cohen, R. (2017, août 7). An academic wants to put refugees in a self- governing, utopian nation called ‹Refugia›. The Conversation. Mai 17, 2022, de https://theconversation.com/refugia-a-utopian-solution-to-the-crisis-of-mass-displacement-81136.